#12

13 3 0
                                    

Ella saß in ihrem Zimmer und zeichnete. Meistens kritzelte sie nur auf einem Blatt herum. Manchmal wurde aus dem Gekritzel ein zusammenhängendes Bild. Ein anderes Mal wiederum, blieben es einfach Striche auf einem Blatt, so wie heute. Frustriert nahm sie das Blatt und zerknüllte es, um es anschließend in den Papierkorb zu werfen. Heute hatten schon viele Blätter daran glauben müssen.

„Ella. Komm runter und deck den Tisch. Wir wollen essen", brüllte ihre Mutter zu ihr hoch.

Sie seufzte und stand von ihrem Schreibtisch auf. Vorher sammelte sie allerdings alle Stifte auf und legte sie fein säuberlich an ihren angestammten Platz zurück. Ella liebte Ordnung. Gegenstände ließen sich im Gegensatz zu Gefühlen viel leichter ordnen. Gegenstände hatten alle ihren Platz. Manchmal hatte Ella das Gefühl sie passe nicht so richtig in diese Welt. Sie fühlte sich anders und wollte nichts mehr als einfach nur normal sein, aber sie war es nicht. So sehr sie es auch wollte sie würde es wahrscheinlich nie sein. Das sie heute so offen zu Chloe war, hatte sie verwundert, sonst redete sie nicht sonderlich viel und verhielt sich Fremden gegenüber eher zurückhaltend. Tief im inneren wusste sie warum - Ihre Mutter war schuld. Nie hatte Ellas Mutter sie geliebt. Vom ersten Augenblick an, als sie Ella das erste Mal im Arm hielt, waren ihre Gefühle stumpf geblieben und bis heute nie ans Tageslicht getreten, denn sie dachte nur an sich selbst. Sie quälte ihre Tochter wo sie nur konnte. Sie halste ihr alle Aufgaben auf, die sie selbst nicht machen wollte. Lobte sie nie. Beschimpfte und kritisierte sie. Ihre Umarmungen waren gestellt und dienten nur dazu, die Außenwelt von ihrer Fürsorge zu überzeugen. Ihre Mutter war nämlich eine Meisterin der Manipulation. Nach außen hin erweckten sie den Eindruck einer normalen und funktionierenden Familie. Für Ella war Liebe etwas, das man bekam, wenn man dafür etwas im Gegenzug tat. Es war aber nie genug. Egal was sie tat. Ihre Mutter sah in ihr eine Konkurrenz, eine Bedrohung. Sie hielt sich nämlich selbst für besonders großartig und anderen überlegen. Das übersah Ella alles. Sie empfand ihrer Mutter gegenüber zwar eine große Wut, allerdings suchte sie die Schuld ausschließlich bei sich selbst. Hielt sich für einen schlechten Menschen, da man seine Mutter doch lieben sollte. Ihr einziger Lichtblick war die Liebe ihres Vaters. Er liebte sie. Seine Gefühle waren nicht kalt. Als er sie in seinen Armen gehalten hatte, kribbelte es in seinem Herzen. Er spürte Wärme, doch seine Liebe war nicht genug. Ella brauchte Mutterliebe und das konnte ein Vater nicht ersetzen.

„Ella. Kommst Du? Der Tisch deckt sich nicht von alleine", Ertönte die genervte Stimme ihrer Mutter von unten.

Ella machte sich auf den Weg in die Küche. Es half nichts. Sie musste hinunter, ob sie wollte oder nicht. Sie kam in die Küche, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Mutter hasste es, wenn sie ohne Aufforderung zu reden anfing. Wenn sie es doch tat, wurde sie mit noch mehr Verachtung gestraft als sonst. Ihre Mutter hatte die Macht über ihren Vater. Er sagte nie etwas zu ihren Schikanen und Beleidigungen, die Ella sich jeden Tag anhören musste. Wenn sie sich wieder einmal in ihrem Zimmer einschloss und weinte, weil sie es nicht mehr aushielt, kam ihr Vater herein, um sie zu trösten. Allerdings halfen ihr seine gut gemeinten Ratschläge nicht, da er seine Frau in Schutz nahm. Inzwischen schenkte sie seinen Worten Glauben. Ihre Mutter musste sie lieben. Sie hatte ihr doch nichts getan. Ihre Bestrafungen geschahen nur aus Liebe. Sie wird bestraft, weil sie es verdient, das wurde ihr ein ganzes Leben lang weisgemacht. Deshalb glaubte sie es, denn sie kannte es nicht anders. Sie biss die Zähne zusammen und holte die Teller aus dem Schrank. Ella mochte die Küche nicht, denn sie war in viel zu grellen Farben gestrichen. Knalliges Gelb vermischt mit grün, rot und blau. Alles hatte eine andere Farbe, weil ihre Mutter es so wollte. Ihr Vater war reich und liebte seine Frau, wenn ihre Mutter etwas wollte, dann wurde es gemacht. Drei Teller stellte sie auf dem hölzernen Esstisch ab. Dann holte sie das Besteck heraus und verteilte es. Anschließend holte sie drei Servietten und faltete sie zu einer wunderschönen Blume. Wenn etwas nicht dort lag, wo es immer lag, bekam sie tierischen Ärger, deshalb gab sie sich große Mühe alles so zu machen wie ihre Mutter es wollte. Der Abstand zwischen dem Teller und dem Besteck musste überall gleich weit entfernt sein. Die Serviette musste genau Ecke auf Ecke gefaltet werden. Das Glas durfte nur zur Hälfte gefüllt werden und im rechten Winkel zum Teller stehen.

„Bist du fertig?", tönte die schrille Stimme ihrer Mutter aus dem Wohnzimmer.

Sicher schaute sie gerade einen kitschigen Liebesfilm, nach dem sie ihrem Vater immer die Ohren vollheulte, warum ihr Leben nicht, wie das in ihren Filmen war. Ihr Vater arbeitete von früh bis spät, um ihnen finanzielle Sicherheit bieten zu können. Ella bekam ihn kaum noch zu Gesicht.

„Bin fertig", rief sie laut und deutlich.

Deutliche Aussprache war ihrer Mutter sehr wichtig. Ella seufzte.

„Was seufzt du so? Wir reißen uns hier jeden Tag den Arsch für dich auf und du schaffst es nicht mal den Tisch zu decken? Du undankbares Gör."

Ihre Mutter kam in die Küche und fing an mit einem Lineal die Abstände zu überprüfen. Sie rückte alles ein bisschen herum, bis sie zufrieden Platz nahm.

„Das nächste Mal gib dir mehr Mühe" Ella nickte nur. Sie wusste, dass sie von ihrer Mutter nicht mehr erwarten konnte. Alles was sie tat, war nie genug oder ausreichend.

Sie hörte Schritte und drehte sich um. „Dad!" Sie lief auf ihn zu und schmiss sich in seine ausgestreckten Arme.

„Ella! Setz dich. Ich bin gleich da."

Liebevoll schaute er sie an und sie war für kurze Zeit glücklich. Es gab nur sie und ihren Vater. Dann setzte sie sich hin, sah ihre Mutter an und alles war wieder da. Der unausgesprochene Hass. Die fehlende Liebe. Nach einer endlos langen Stille kam ihr Vater zurück in das Zimmer und nahm neben seiner Frau Platz. Sie begannen zu essen.

Niemand sagte etwas, bis ihr Vater sagte. „Wie war dein Tag, Ella? Erzähl doch mal."

Ihre Mutter redete sofort dazwischen. „Mein Tag war unendlich anstrengend..."

„Ich habe Ella gemeint", schaltete ihr Vater sich barsch ein.

Ella schaute ihn überrascht an. Das war das erste Mal, dass er sich gegen sie wehrte. Gegen ihre ständige Unterdrückung und sich auf ihre Seite stellte. Genugtuung erfüllte Ella als sie in das beleidigte Gesicht ihrer Mutter blickte.

„Kein Wunder das sie keine Freunde hat, wenn sie nicht einmal für sich selbst sprechen kann."

Das saß. Die Zornesröte schoss Ella ins Gesicht. Messerstiche bohrten sich in ihr Herz und sie sprang auf. Tränen stiegen ihr in die Augen und warteten nur darauf herausgelassen zu werden, doch sie hielt sie zurück, denn diese Genugtuung wollte sie ihrer Mutter nicht geben. Sie rannte nach oben in der Hoffnung ihr Vater würde nachkommen und sie trösten, doch er kam nicht. 

Der WahrheitsfinderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt