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„Das muss ich jetzt erstmal verkraften. Er hat dir wirklich den Finger abgehackt? Mit einer Axt?" Chloe riss die Augen weit auf.

Mila nickte nur und zeigte ihr die feine, kaum sichtbare Narbe an ihrem Finger, die sie jeden Tag an das Geschehene erinnerte.

Sie konnte ihre Augen kaum noch offenhalten. Der Tag heute hatte sie unglaublich angestrengt, vor allem, da sie immer noch an den Folgen des Unfalls zu kämpfen hatte.

„Mom? Du bist so blass. Geht es dir gut?", fragte Chloe und musterte sie wieder von oben bis unten.

„Geht schon. Ich muss mich nur ein wenig ausruhen, wenn das ok ist." Sie schloss die Augen und hörte die Antwort gar nicht mehr, denn sie war bereits eingeschlafen.

Sie erwachte durch eine schmerzhafte Berührung an ihrer Brust. Sie schlug die Augen auf und rutsche im Sitzen von der Person fort, als sie erkannte, wer dort vor ihr saß, verspürte sie das starke Wunsch noch weiter von ihm fort zu können. Doch sie blieb sitzen und wiederstand dem Drang. Mila blickte nach rechts und erst als sie sich vergewissert hatte, dass Chloe unverletzt war, drehte sie sich wieder zu Aaron um.

„Fass mich nicht an." Mila verstand nicht wie sie es schaffte ihre Stimme ruhig und sogar ein wenig bedrohlich klingen zu lassen.

In Wirklichkeit war ihr gesamter Körper kurz davor in Panik auszubrechen. Sie hatte sich schon einmal so gefühlt. Damals als sie endlich begriffen hatte, was für ein schlechter Mensch er eigentlich ist. Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Sie hatte das Geschehene schon fast verarbeiten können. Anfangs holten sie noch ständig Flashbacks ein. In ihrer Therapie lernte sie schließlich damit umzugehen und es wurden jeden Tag weniger und weniger Erinnerungen. Sie wollte nicht, dass Chloe das gleiche durchleben musste, vielleicht war es dafür aber schon zu spät.

„Ich wollte dir nur sagen, dass ich nicht sauer auf euch bin. Wegen eures Fluchtversuchs." Aaron fuhr sich mit seiner Hand durch sein Haar.

Diese Geste erinnerte Mila an sein früheres Ich. Es erinnerte sie an die Zeit vor der Hochzeit und versetzte ihr einen Stich in ihrem Herzen. Hätten sie beide eine Zukunft haben können? Wenn das alles nicht passiert wäre? Wenn Simon nicht gestorben wäre? Möglich. Oder vielleicht hätte es sich auch nur verzögert. Vielleicht wäre bei Aaron an anderer Stelle eine Sicherung durchgebrannt. Es war auch nicht von Bedeutung, denn es war sowieso nicht mehr zu ändern.

„Ich möchte doch nur, dass wir eine glückliche Familie werden. Wenn ihr soweit seid und mich akzeptiert, werden wir in ein schönes Haus mit Garten ganz weit weg von hier ziehen und uns dort ein ordentliches Leben aufbauen. Du bleibst zuhause und kümmerst dich um den Haushalt. Ich fange wieder als Psychologe an und verdiene das Geld. Wie klingt das für dich?" Seine Stimme klang sanft, schmeichelnd.

Schrecklich.

„Das hört sich wirklich gut an." Mila zwang sich zu einem Lächeln.

„Eine Weile werden wir noch hierbleiben müssen. Bis ihr mir genug vertraut. Ich liebe dich, Mila. Ich habe nie damit aufgehört." Er lächelte schon wieder.

Sie schwieg. Früher musste er nur einmal ich liebe dich sagen und Mila glaubte ihm, doch heute wusste sie. Er liebte sie nicht, tat es nie. Möglicherweise hielt er es für Liebe. Aaron hatte dieses Gefühl jedoch nie erfahren, aber sein Herz sehnte sich danach und glaubte es in Mila gefunden zu haben. Er musste sein Leben lang um die Liebe seines Vaters kämpfen, die er nie bekam. Aaron war nie gut genug, wurde von seinem Vater nur beachtet, wenn er bestimmte Leistungen erbrachte. Liebe war für ihn geben. Äußerlich gab er sich kalt, doch innerlich war er einfach nur ein verletztes Kind auf der Suche nach Zuneigung.

Der WahrheitsfinderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt