66 - Vernunft?

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TW - Essstörung

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Unten sehe ich vorerst keinen. Ist auch klar, denn Tim geht zielstrebig auf den Esstisch zu. Und da sitzen sie alle. Sogar Phil ist schon von der Arbeit zurück. Und Toni ist ebenfalls dabei. Wie eine Krisensitzung. Am liebsten würde ich sofort umkehren, doch Tim greift nach meinem Handgelenk. Gedankenleser.
Es ist unangenehm. Auch wenn ich mit diesen Menschen aufgewachsen bin, löst es in mir unangenehme Gefühle aus, sechs Augenpaare auf mir ruhen zu haben, alle voller Sorge. Wie sie einen mustern und nicht wissen, womit sie anfangen sollen. Ich fühle mich wie ein seltener Gegenstand, wie eine seltene Spezies, die jetzt genau unter die Lupe genommen wird. Im nächsten Moment denke ich mir, wie dämlich meine Gedanken doch sind.
In der Mitte des Tisches steht ein Teller, auf dem geschnittene Wassermelone liegt. Auffällig stark in meine Richtung platziert. „Bedien dich", sagt Phil, als er meinen Blick bemerkt. Als wäre ich Gast in meinem eigenen Zuhause.
Paula ergreift das Wort zuerst, doch sie legt nicht direkt mit dem eigentlichen Thema los. „Jetzt weiß ich, warum ihr da oben so lange gebraucht habt", lacht sie und guckt auf meinen Hals. Sofort fährt meine Hand an die Stelle, auf die nun alle gucken.
„Huch, das war wirklich nicht beabsichtigt", sagt Tim und lacht peinlich berührt auf. Mein Blick trifft seinen. „Das bekommst du definitiv zurück."
Er fängt an zu grinsen. Ist mir klar, dass er sich darauf freut. Seufzend lege ich meine Haare über meine linke Schulter und verdecke so den Knutschfleck. Ich hasse diese Dinger.

Papa verschränkt seine Hände ineinander, holt tief Luft und fängt dann an. Die Fakten hängen schwer in der Luft und warten nur so darauf, ausgesprochen zu werden.
„Josefine, wir haben uns das nun lang genug angeguckt. Eigentlich zu lang. Aber jedes Gespräch wurde von dir sofort abgeblockt. Und das Ding in der Schule heute war jetzt wirklich die letzte Stufe, die du mit deinem Verhalten erreichen kannst, bei der wir noch etwas ändern können. Das ist deine letzte Chance, ohne Therapie aus diesem Mist zu kommen. Auch wenn es ohne Therapie sehr schwer wird. Und deswegen haben wir auch schon darüber nachgedacht. Dass eine Therapie die beste Lösung wäre."
„Da mache ich nicht mit", haue ich ohne Umschweife raus. „Keine Therapie. Nicht mit mir. Wieso auch? Was soll denn bei mir therapiert werden? Da gibt es nichts zu therapieren, da liegt doch der Punkt."
„Dein falsches Bild von Ernährung. Du redest dir ein, dass du dich gesund ernährst. Dabei hast du deine Menge an Essen immer weiter reduziert. Die Dinge, die du isst, können dir kaum noch Energie und Nährstoffe liefern", erklärt Phil ruhig. „Das ist nicht gesund. Schon gar nicht auf Dauer. Und heute haben wir gesehen, wie weit es gehen kann."
Auch Alex muss natürlich seinen Senf dazugeben. „Außerdem muss der Grund behoben werden, weshalb das so gekommen ist. Schlechter Einfluss übers Internet? Bist du unzufrieden mit deiner Figur und willst abnehmen? Wie bist du in diesen Wahn gekommen?"
„Leute, was für ein Wahn? Ich achte einfach auf meine Ernährung. Präventiv, um nicht durch ungesunde Ernährung irgendwelche Krankheiten zu bekommen." Wut steigt in mir auf, ich bin jetzt schon gefährlich doll gereizt. Sie wollen mich nicht verstehen.
Oder vielleicht ich sie nicht.
„Du machst dich mit deinem Essverhalten momentan aber krank. Und wir sind bereits zu einem Entschluss gekommen", schaltet sich Paula ein. Na jetzt bin ich mal gespannt.
„Du hast zwei Möglichkeiten. Die erste wäre, dass du das mit uns zusammen schaffst. Wir geben dir eine Woche Zeit, in der du dich langsam herantasten kannst. Du kannst ja nicht von jetzt auf gleich wieder normal essen. Wenn das aber nicht greift, dann kommt spätestens nächste Woche die Therapie. Oder du steigst direkt in eine Therapie ein."
Ich springe auf. „Ich brauche verdammt nochmal keine Therapie! Versteht ihr das nicht? Mit mir ist alles gut, das kann ich wohl am besten einschätzen!", schreie ich und will gehen. Tim hält mich jedoch am Arm fest.
Tränen steigen in mir auf, die ich nicht zurückhalten kann. Ich will mich aus seinem Griff befreien, bin dafür jedoch zu schwach. Entkräftet falle ich zurück auf meinen Stuhl, vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und lasse alles raus. Schluchze laut auf. Ich kann nicht mehr. Dieses Eingerede von allen Seiten, es ist unerträglich.
Tim nimmt mich vorsichtig in den Arm. Ich heule mich an seiner Schulter aus, während er mir beruhigend über den Rücken streichelt. „Du musst uns verstehen", flüstert er.
„Versteht mich doch mal", gebe ich gebrochen zurück.
„Fine, vertrau uns, bitte. Ich kann mir nicht vorstellen, was in dir vorgeht. Aber ich hatte schon ab und an mal mit Essstörungen zu tun. Wir wissen alle, dass du das ganz anders siehst und man dir nichts einreden kann. Deswegen musst du uns einfach vertrauen." Paulas Stimme wirkt auf mich, als würde sie gleich mit weinen.
„Ich vertraue euch doch. Aber wenn man keine Fehler sieht, ist es schwer, etwas zu ändern." Ich löse mich aus der Umarmung und nehme das Taschentuch, welches mir von Papa hingehalten wird, nur zu gern an.
„Das ist wahr. Aber kannst du uns wenigstens den Auslöser für deine, na ja, gesunde Ernährung nennen?", fragt Alex einfühlsam.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß es nicht genau, habe mir einfach mal darüber Gedanken gemacht. Mit meiner Figur bin ich aber nicht unzufrieden. Ich ernähre mich nicht so, weil ich abnehmen will. Wirklich nicht, das müsst ihr mir glauben." Es ist nicht gelogen, nur einen Teil der Wahrheit habe ich eben weggelassen.

Eine unangenehme Stille entsteht, bis sich Paula räuspert.
„Ich denke, wir werden es schaffen. Zusammen. Gleich heute Abend werden wir zusammen kochen. Die ersten Tage wird es für dich schwer, vor allem, weil dein Körper nicht mehr an richtiges essen gewöhnt ist. Es wird seine Zeit dauern, aber ich bin davon überzeugt, dass wir das hinbekommen. Der einzige Punkt, bei dem ich Probleme sehe, ist deine Einsicht. Ohne diese wird es nichts, beziehungsweise sehr schwer."
Ich hebe mein Blick vom Taschentuch, welches ich in meinen Händen inzwischen schon in etliche Fusseln zerfleddert habe. Von allen kommen aufmunternde Blicke.
Tims Hand liegt auf meinem Bein. Und als ich ihm in die Augen gucke, schleicht sich langsam die Erkenntnis ein, dass ich etwas ändern muss.
Noch etwas zögerlich greife ich zum Teller mit der Wassermelone und nehme mir ein Stück. Sofort legt sich auf alle Gesichter ein Lächeln und sie tun es mir gleich. Nur Toni sieht aus, als wäre er nicht ganz hier.
„Toni? Du hast gar nichts gesagt", erwähne ich, nachdem ich einmal vom Melonenstück abgebissen habe. Ganz schön schlau sind sie ja. Melone, damit ich Flüssigkeit zu mir nehme.
Er zuckt hoch und schüttelt seinen Kopf. „Mh, habe ich was verpasst?"
Ich schüttele lachend meinen Kopf. Ich kann mir schon denken, bei wem seine Gedanken waren.

Tim bleibt bis zum Abend. Paula, er und ich kümmern uns um das Abendessen. Gemüsepfanne mit Reis. Paula hatte recht, es hilft enorm, wenn man das Essen mit vorbereitet und sieht, was reinkommt.
Wirklich viel bekomme ich zwar nicht runter, aber die anderen sehen trotzdem glücklich aus.
„Es ist normal, dass du noch kaum Hunger hast. Dein Magen muss sich erst mal wieder an richtige Mahlzeiten gewöhnen. Aber ich bin wirklich stolz auf dich", sagt Phil.
Und es macht mich stolz, dass er stolz auf mich ist.
Vielleicht bekomme ich es ja doch hin. Mit allen zusammen. Irgendwie.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt