68 - Zwei gegen eins

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„Kommst du morgen wieder?" Tim hält mich an meiner Taille fest und guckt mich an.
„Ich denke schon, ja. Nach meinem kleinen Schwächeanfall gestern brauchte ich heute einfach noch Ruhe."
„Ich freue mich."
Zum Abschied gibt er mir einen Kuss, doch kaum berühren sich unsere Lippen, kommt von hinter ihm: „Oh, hi Tim und ich denke tschüss Tim?"
Ruckartig fahren wir auseinander. Hinter ihm steht Toni, der anscheinend ins Haus möchte.
„Ja, ich wollte gerade gehen. Bis dann." Da ist er auch schon weg.
Toni grinst mich an. „Was?", frage ich schon gleich etwas gereizt.
„Ach, nichts." Noch immer grinsend schließt er die Tür.
Ich mache mich sofort wieder auf den Weg in mein Zimmer, doch komme nicht weit.
„Stopp!", ruft Papa aus dem Wohnzimmer.
Gerade so vor der ersten Stufe bleibe ich stehen und gehe rückwärts zurück, um ins Wohnzimmer zu gucken.
„Es gibt gleich Abendessen, kommst du bitte in zehn Minuten wieder?"
„Na sicher", gebe ich von mir und zische dann ab.

Vielleicht war mein Tonfall ein bisschen sehr ironisch, denn fast genau zehn Minuten später klopft es an meiner Tür.
„Ja?"
Paula kommt rein, doch anstatt mich einfach nur schnell zum Essen zu holen, schließt sie die Tür und setzt sich zu mir aufs Bett.
„Ist was?", frage ich ziemlich verwirrt.
Sie hebt ihre Schultern. „Tim tut dir richtig gut, was?" Sie lächelt mich glücklich an.
„Ja, natürlich, aber wie kommst du jetzt darauf?"
„Er hat uns gesagt, dass du vorhin etwas mit ihm gegessen hast. Und das eigentlich so gut wie freiwillig."
„Wenn er so gut kochen kann, da kann man halt nicht widerstehen", grinse ich und muss wieder daran denken. Ich fühle mich noch immer voll von dem Essen.
„Soll das etwa heißen, dass wir nicht so gut kochen können?"
Ich mache ein gespielt nachdenkliches Gesicht, was Paula zum Lachen bringt.
„Na ja, eigentlich wollte ich noch kurz über etwas anderes reden. Wie sieht es bei dir mit der Pille aus? Wenn du sie nehmen möchtest, dann würdest du dich doch an einen von uns wenden, oder? Ich meine, es ist wichtig, darüber zu sprechen."
Ich mache eine abwertende Handbewegung. „Erstens möchte ich die Pille eigentlich nicht nehmen. Du nimmst sie doch auch nicht, oder?"
Paula schüttelt den Kopf. „Und zweitens?"
„Zweitens habe ich noch nicht vor, mit ihm zu schlafen. Dafür fühle ich mich einfach noch nicht hundertprozentig bereit. Und so wie ich mich kenne, dauert das auch noch eine ganze Weile."
„Lass dir da auch Zeit, ich habe damals auch ewig für gebraucht. Und lass dich auf keinen Fall unter Druck setzen, auch wenn ich eigentlich nicht denke, dass Tim einer ist, der das tun würde."
Ich nicke.
„Na los, das Essen wartet." Sie steht wieder auf, doch ich folge ihr nicht. „Soll das jetzt immer wie heute Morgen ablaufen?"
Ich zeige keine Reaktion. Die Nudeln von heute Mittag reichen doch, was will sie? Mein Magen ist voll.
„Na schön, wenn du meinst. Alex!"
Binnen Sekunden ist er in meinem Zimmer.
„Oh, wieder der Essensexpress? Wie die junge Dame wünscht." Ohne Anstrengung hebt er mich so hoch, wie Phil das schon heute Morgen gemacht hat.
„Scheiße bist du leicht geworden", stellt auch er unzufrieden fest.
Und ich stelle fest, dass ich mich daran gewöhnen könnte, immer heruntergetragen zu werden. Ist eigentlich ganz gemütlich.
Unten angekommen setzt er mich wieder auf meinen Stuhl. Mein Blick fällt sofort auf den tiefen Teller vor mir, der mit Nudelsuppe befüllt ist. Ein paar Fettaugen grinsen mich schief an. Fett. Nicht mit mir.
Ich verschränke meine Arme vor der Brust und rutsche etwas tiefer in den Stuhl.
Papa seufzt. „Das wird jetzt gegessen. Wenigstens den halben Teller."
Ich löse meinen Blick von den fies grinsenden Fettaugen und gucke mein Gegenüber, in dem Falle Papa, genervt an.
„Ich bin noch satt vom Mittag", murmele ich.
„Nudelsuppe geht aber immer etwas. Los", fordert mich nun auch Phil auf.
Vielleicht machen sie hier den entscheidenden Fehler. Sie drängen mich zu sehr. Tim hat das alles nicht so streng gesehen. Und hier kommt dann eben meine Sturheit durch. Werde ich zu etwas gedrängt und höre von allen Seiten, was ich machen soll, mache ich es erst recht nicht.
Eine Zeit lang ist nur das Klappern der Löffel zu hören, bis Alex seinen ablegt. Er nimmt meinen zur Hand, füllt ihn mit Suppe und hält ihn mir vor die Nase, die ich nun rümpfe. Meine Augen schielen zum Löffel und ich erkenne die kleinen Fettflecken. Ich presse meine Lippen fest aufeinander.
Nachdem ich mich jedoch keinen Millimeter bewegt habe, merke ich plötzlich ein heftiges Zwicken an meinem Ohrläppchen.
„Au!", will ich vor Schreck schreien, doch da ist schon die Suppe durch Alex in meinem Mund gelandet.
So perplex wie ich bin, kaue ich die Nudeln schnell, schlucke runter und gucke Alex dann empört an.
„Spinnst du?"
„Scheint bei dir ja die einzige Lösung zu sein", sagt er schulterzuckend.

Aber was soll ich sagen? Es hat leider gewirkt. Ehe ich noch was weiß ich wie oft irgendwo gezwickt werde, habe ich permanent vor mich hin meckernd den halben Teller gegessen.
„Darf ich hoch?", frage ich danach ziemlich angepisst.
Alle schütteln einstimmig den Kopf. „Du kannst ins Wohnzimmer. Aber nicht nach oben", sagt Papa.
„Warum das denn?"
„Darum."
Als ich mich auf die Couch fallen lasse, kommt mir eine Antwort auf meine Frage in den Sinn. Sie haben bestimmt Angst, dass ich das Essen nicht bei mir behalte. Aber nein, das würde ich niemals tun. Ich würd mich nicht freiwillig übergeben.

Die Woche verläuft schleppend. Ich merke aber, wie mir in Tims Gegenwart das Essen leichter fällt. Er setzt mich einfach nicht unter Druck, und das hilft mir enorm.
Am Freitag schließe ich gerade die Haustür auf, als es nicht mal um zwölf ist. Die letzten beiden Blöcke sind ausgefallen.
Kaum ist die Tür auf, sehe ich Alex, der sich gerade Schuhe anzieht.
„Wo willst du hin?" Ich stelle meinen Rucksack zur Seite.
„Ich brauche neue Hosen und wollte ins Center fahren. Möchtest du mitkommen? Du hast doch neulich auch mal gesagt, dass du neue Oberteile brauchst. Können wir ja gleich erledigen."
„Ja, muss nur noch kurz auf Toilette."

Das Einkaufszentrum ist herrlich leer um diese Zeit. Klar, die Jugendlichen sind alle noch in der Schule und die anderen arbeiten.
Zuerst kümmern wir uns um meine Oberteile, was Alex fast den Verstand raubt, dann widmen wir uns dem Hosenkauf für Alex. Bei dem wiederum ich die Geduld fast verliere. Und da soll mal jemand sagen, dass wir Frauen kompliziert sind.
Etliche Einkaufstüten später sind wir fertig. Mit dem Shoppen und mit unseren Nerven. Es ging eigentlich schnell, und es ist hier überall immer noch leer, doch ich war noch nie jemand, der so gern shoppt. Aber wenn es sein muss.
„Ich muss noch Brot kaufen, du kannst schon mal zum Auto, wenn du willst." Alex hält mir den Autoschlüssel hin, den ich gern annehme und mich dann auf den Weg zum Ausgang mache. Doch als ich um die nächste Ecke gehe, traue ich meinen Augen nicht.
Am Eingang steht ein kleines Mädchen, höchstens vierte Klasse, an der Wand. Sie drückt sich förmlich dagegen. Vor ihr zwei Jugendliche, einer breiter als der andere und gefühlt fünf Köpfe größer als sie. Als dann auch noch der erste Tritt gegen ihr Schienbein kommt, renne ich einfach los. Das kann doch nicht wahr sein. Es gibt doch Nachteile, wenn es hier so leer ist.
„Gib uns dein Handy, sonst wirst du dein blaues Wunder erleben", höre ich den einen bedrohlich sagen.
Statt einer Antwort  wimmert die Kleine nur.
Der nächste Tritt folgt und sie schluchzt schmerzerfüllt auf.
„Sagt mal spinnt ihr?", schreie ich komplett außer mir. Total dämlich, als würden sie auf mich hören oder von mir beeindruckt sein.
Deren Köpfe drehen sich zu mir. Immerhin lenke ich sie dann vom Mädchen ab. Und hoffentlich kommt Alex früh genug, bevor die mir noch was antun.
„Was willst du denn jetzt?", fragt der eine abwertend.
„Was auch immer ihr vorhabt, lasst das Mädchen mal in Ruhe!"
„Schrei nicht so, sonst kommt hier gleich einer. Dann sind wir dran", faucht der andere.
„Ja, das seid ihr so oder so", gebe ich zurück. In mir bildet sich eine bis jetzt unbekannte Stärke.
„Du kannst uns ja auch gleich dein Handy geben." Ich werde plötzlich gepackt und neben dem Mädchen an die Wand gedrückt. Ich schlucke. Der ist stark, viel zu stark.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)



7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt