67 - Einsicht ist die halbe Miete, doch sie fehlt

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'Vielleicht bekomme ich es ja doch hin. Mit allen zusammen. Irgendwie.' So schnell dieser Gedanke gestern kam, war er auch schon wieder verflogen.
Am Dienstag werde ich morgens von Paula geweckt. „Kommst du jetzt frühstücken?"
Maulend drehe ich mich um und ziehe mir die Decke über den Kopf. „Keinen Hunger."
„Wir hatten gestern eine Vereinbarung", erwähnt sie streng.
Hatten wir das? Ich kann mich an keine feste erinnern. Vielleicht habe ich gestern Abend gegessen. Aber mir ist das alles auch noch mal durch den Kopf gegangen. Sie konnten meine Einstellung nicht wirklich ändern.
Ein unachtsamer Moment meinerseits und die Decke wird mir von Paula weggezogen. „Hey, was soll das?", frage ich empört.
„Du kommst jetzt nach unten und isst was." Sie geht zur Tür und wartet auffordernd auf mich.
„Ich soll heute doch zu Hause bleiben, da kann ich ausschlafen", grummele ich und drücke mein Gesicht ins Kissen.
„Ja, das sollst du. Nach gestern brauchst du noch Ruhe. Da wir aber gleich alle zur Arbeit müssen, isst du mit uns zusammen. Wir können alle wetten, dass du sonst das Frühstück ausfallen lässt."
Ich schnalze genervt mit der Zunge. „So vertraust du mir also."
„Das hat nichts mit Vertrauen zu tun. Einfach nur mit Wissen. Und wir wissen alle, dass du Hilfe brauchst."
Paula kann so viel reden, wie sie will. Mein Magen dreht sich schon allein beim Gedanken an Frühstück um. Ich werde keinen Fuß freiwillig aus dem Bett bewegen.
Paula seufzt. „Phil, ich brauche mal kurz Hilfe!", ruft sie plötzlich in den Flur. Schnelle Schritte sind zu hören und kurz darauf steht Phil neben ihr.
„Wir haben hier einen kleinen Sturkopf, der sich weigert."
„Na das ist doch leicht behoben", grinst Phil. Bevor ich mich wehren kann, packt er mich und wirft mich über seine Schulter.
„Lass mich runter! Oder ich übergebe mich auf deinen Rücken!" Mit meinen Fäusten boxe ich auf seinen Rücken, doch das interessiert ihn die Bohne.
„Mach das, gibt schlimmeres, glaub mir. Und du bist wirklich leicht geworden." Er trägt mich runter und setzt mich am Esstisch ab. Direkt auf meinen Stuhl.
„Du bist doof. Ihr seid alle doof." Ich fühle mich gerade wie ein bockiges Kleinkind, aber das ist mir egal.
„Was möchtest du essen?" Papa guckt mich mit schrägem Kopf an. Ich antworte nicht.
Keine Antwort ist für ihn scheinbar trotzdem eine.
Eine Scheibe Vollkornbrot mit Frischkäse wird auf meinen Teller geschoben. Der Anblick treibt mir die Übelkeit in den Körper.
„Essen", kommentiert Alex seine gerade getane Aktion.
Keine Reaktion.
„Sonst Therapie. Du hast es in der Hand", ergänzt er schulterzuckend.
„Erpressung." Ich nehme das Messer, welches neben meinem Teller liegt, und schneide die Scheibe durch.
„Du isst die ganze", kommt es sofort von Papa.
Werden wir ja sehen. Mit verzogenem Gesicht beiße ich ein Stück ab. Kaue langsam los. Als ich schlucke, rebelliert mein Magen sofort. Und nur mit aller Kraft kann ich das Würgen unterdrücken und den nächsten Bissen runterquälen. Aber nur, weil ich es hasse, mich zu übergeben.

Den ganzen Vormittag verbringe ich im Bett. Was soll ich auch machen?
Gegen 14 Uhr klingelt es jedoch. Hat jemand was bestellt?
Ich mache mich auf den Weg nach unten. Tim steht vor der Tür. Einerseits freue ich mich ja, andererseits habe ich keine Lust auf Diskussionen rund ums Essen, die unweigerlich auf mich zukommen werden.
„Du schon hier?", frage ich überrascht. Immerhin wäre eigentlich noch Schule.
Er nickt. „Der letzte Block ist ausgefallen."
Ich gehe zur Seite, damit er reinkommen kann. Zur Begrüßung nimmt er mich in den Arm und küsst mich. Doch ich löse mich schnell von ihm.
„Wurdest du vielleicht von jemandem geschickt, um mich zum Essen zu zwingen?"
„Nein, ich wollte dich einfach sehen. Ich kann auch wieder gehen, wenn du nicht willst." Er zieht ein trauriges Gesicht, was mich zum Schmunzeln bringt.
„Ich freue mich immer über deinen Besuch, auch wenn ich gerade schrecklich aussehe."
„Du hast noch nie schrecklich ausgesehen. Ich habe noch nie jemand schöneren gesehen", sagt er grinsend.
Ich schüttele den Kopf und ziehe ihn wieder zu mir.

„Ich muss sagen, nach diesem Schultag könnte ich schon ein Mittagessen vertragen", erwähnt Tim, während ich in seinen Armen liege.
Ich verdrehe meine Augen fast nicht erkennbar, doch Tim ist zu aufmerksam.
„Komm, auch wenn du nichts essen willst, ich brauche langsam was." Er drückt mich hoch, damit er aufstehen kann. „Wollen wir Nudeln kochen? Du musst auch nichts essen, keine Angst, ich zwinge dich nicht."
Skeptisch gucke ich ihn an. Irgendwie traue ich ihm nicht ganz. „Na schön, ich werde meinem Freund mal unter die Arme greifen. Bei dir brennt bestimmt noch das Nudelwasser an."
„Ach, denkst du das?" Er grinst mich schelmisch an und kommt doch wieder zurück zu mir aufs Bett.
„Also bei dir kann ich mir das durchaus gut vorstellen", spiele ich ernst weiter.
„Vielleicht. Aber dich werde ich mit Sicherheit nicht anbrennen lassen."

Das ist dann doch in einer etwas wilderen Knutscherei geendet, wo mir die perfekte Gelegenheit gegeben wurde, ihm den Knutschfleck von gestern heimzuzahlen.
Schlussendlich stehen wir in der Küche am Herd, um Nudeln mit Tomatensauce zu kochen. Oder besser gesagt kocht Tim und ich schaue ihm über die Schulter.
Mit einem vollen Teller setzt er sich an den Tisch. Ich nehme mir ein Glas Wasser und setze mich dann neben ihn.
„Und, konnte ich dich von meinen Kochkünsten überzeugen?"
„Dafür müsste ich es ja probieren", antworte ich und nehme einen Schluck Wasser.
Er spießt zwei Nudeln auf seine Gabel und hält sie mir hin. Ich hebe eine Augenbraue. „Du hast gesagt, ich muss nichts essen."
„Du probierst ja auch nur mein Meisterwerk", kontert er und kommt mit der Gabel näher an meinen Mund. „Komm schon. Bitte."
Seufzend öffne ich meinen Mund. Mit einem glücklichen Lächeln schiebt er mir die Gabel in den Mund. Jetzt ist es schon so weit, dass ich gefüttert werden muss.
„Und?", fragt er schon fast aufgeregt.
„Hast du super gemacht. Schmeckt wirklich gut", gebe ich zu, mein Blick auf seinen Teller gerichtet.
„Sieht ja so aus, als würdest du nicht genug bekommen."
Und ich mag es kaum glauben, aber es geht so weiter. Immer wieder hält er mir seine Gabel hin und ich esse es dann auch.
Letzten Endes habe ich bestimmt fast ein Viertel seiner großen Portion gegessen. Und mir ging es danach gut. Außerdem hatte ich danach einen äußerst zufriedenen Tim neben mir. Allein dafür hat es sich gelohnt.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt