112 - Familie ist wichtig

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Mein Herz zieht sich zusammen. Papa hat nicht versagt, er merkt gar nicht, dass er alles für uns tut, damit es uns gut geht.
„Papa, du hast nicht versagt. Wenn, dann haben wir alle gemeinsam versagt", berichtige ich mindestens genauso leise.
Toni sagt nichts, er guckt starr aus dem Fenster.
Wir wissen alle die Wahrheit - doch sie tut verdammt weh, dass man sich das nicht eingestehen will.
„Doch, ich habe als Vater versagt. Ich habe mich zu doll auf ein Problem fixiert und nicht auf beide Kinder gleich doll geachtet." Seine Stimme zittert, als wäre er kurz vor den ersten Tränen.
„Ich bin 19. Es ist klar, dass du nicht mehr so doll auf mich achtest und Fine momentan größere Unterstützung braucht", erwidert Toni mit dünner Stimme.
Ich würde gern etwas dazu beisteuern, etwas, das Papa ermutigen würde, doch meine Gedanken sind ein einziges Wirrwarr. Sie können die ganzen neuen Informationen nicht verarbeiten, die auf mich eingeprasselt sind, wie es der Regen gerade getan hat.
„Ich bin trotzdem dein Vater. Verdammt, ich habe nicht gemerkt, wie es dir die ganze Woche über schon ging!" Er haut auf das Lenkrad, vergräbt sein Gesicht danach in den Händen.
Toni zuckt schwach mit den Schultern, ehe er seinen Kopf nach links dreht und Papa anguckt. „Phil, Alex und Paula haben genauso wenig gemerkt. Fine war die Einzige, die mich gestern nach meinem Wohlbefinden gefragt hat. Aber da hast du uns unterbrochen."
Ich fühle mich gerade sinnlos. So unglaublich nutzlos. Genau genommen bin ich Schuld. Weil ich die komplette Aufmerksamkeit auf mich gezogen habe.

Erneutes Schweigen scheint mich zu erdrücken.
„Es tut mir leid, dass ich euch nie die Familie bieten konnte, die viele haben. Dass ihr nie eine Mutter hattet. Ich habe immer alles gegeben, um euch das Leben so schön zu machen, wie es nur geht. Und ich sehe ein, dass ich nun komplett versagt habe. Es tut mir leid, dass ich einen Job habe, in dem ich flexibel sein muss. In dem ich nie genau sagen kann, wann ich wieder bei euch zu Hause bin. Ich -"
„Lass das", fährt Toni ihm dazwischen. „Ich könnte mir keine bessere Familie vorstellen, keinen besseren Vater. Du hast alles für uns gegeben, du gibst noch immer alles für uns, trotz meines Alters auch für mich. Du hast uns durch Phil und Alex eine Familie geschenkt. Eine bessere kann ich mir gar nicht vorstellen. Und ganz ehrlich, Mama war nie wirklich für mich da. Du warst derjenige, der sich immer mit mir beschäftigt hat, jede freie Sekunde für mich geopfert hat. Und dafür bin ich dir unendlich dankbar."

Die Tränen laufen mir schon lange stumm über meine Wangen. Auf der einen Seite kann ich nicht fassen, wie verletzt sich Toni fühlen muss. Andererseits bin ich einfach von Papas und Tonis Worten gerührt. Toni hat recht. Mit Phil und Alex hat Papa uns unsere Familie geschenkt. Er ist der, der sich immer an die letzte Stelle stellt und keinen Gedanken an sich verschwendet, solange seine Kinder nicht wunschlos glücklich sind. Gut, Alex und Phil sind da nicht anders, auch wenn wir nicht verwandt sind. Aber Toni und ich sind mit ihnen aufgewachsen.
An Mama kann sich Toni noch ganz schwach erinnern, aber es scheinen keine großartig schönen Erinnerungen zu sein.

„Mach dir bitte keine Vorwürfe, Papa. Ich hätte mich melden können, wenn ich es wirklich unbedingt gewollt hätte. Und ich weiß, dass du ohne Umschweife sofort da gewesen wärst."
„Es tut mir leid", flüstert Papa erneut.
„Dir muss nichts leid tun", gibt Toni zu verstehen. „Weißt du was? Was hälst du von unserem Lieblingsitaliener mit drei großen Pizzen? So wie früher immer, wenn wir mal wieder ein kleines Wehwehchen hatten", schlägt Toni vor und klingt nun etwas heiterer. „Das hilft bestimmt gegen Fines und meinen Trennungsschmerz", schiebt er hinterher und dreht sich zu mir um. „Was sagst du dazu?"
Ich nicke und wische meine Tränen weg. „Klingt super."
„Das habe ich vermisst", sagt Papa und startet das Auto.

Uns ist es egal, dass unsere Kleidung noch etwas feucht ist. Uns ist es egal, dass Papa seine Arbeitskleidung trägt. Wir genießen einfach zu dritt die Pizzen bei unserem Lieblingsitaliener und reden über alle Dinge, die in letzter Zeit zu kurz gekommen sind.
Außerdem feiern wir still und heimlich, dass Paul die kaputte Bushaltestelle als Unfall angesehen hat. Obwohl Toni das ziemlich mutwillig veranstaltet hat, weil er einfach nicht wusste, wo er mit seinen Gefühlen hin soll.
Und ich kann ihn gerade zu gut verstehen. Aber vielleicht wird es leichter, wenn wir beide eine Trennung gemeinsam durchstehen. Wir können uns gegenseitig unterstützen.

Unsere Stimmung ist ausgelassen, als wir ziemlich spät nach Hause kommen. Auch wenn der Himmel noch grau ist und die Sonne verschluckt hat, sind unsere Launen besser als in den letzten Tagen. Uns wurde bewusst, wie froh wir sein können, uns gegenseitig zu haben.
Das ist auch der Grund, weshalb wir alle erstmal Paula, Alex und Phil in die Arme nehmen, ehe sie irgendetwas raffen können.
Selbst Toni scheint nicht allzu wütend auf uns zu sein. Er versteht, dass ich gerade selber in einer blöden Lage bin. Und dafür habe ich großen Respekt und merke, wie reif Toni doch geworden ist.

Es folgt eine große Erklärungsrunde bis in die Nacht. Begonnen beim Morgen, den Phil nach meiner Erlaubnis anspricht. Selbst das scheint Papa gerade nicht sauer zu machen, was ich schon fast gruselig finde.
Zum Schluss reden wir noch eine ganze Zeit über Toni, seine Trennung von Jamira und wie er damit nun umgehen wird. Abgesehen von seinem Wutausbruch auf offener Straße, von dem er ein paar oberflächliche Schnittwunden an den Händen davongetragen hat.
Jamira hat sich von ihm getrennt. Der Grund ist wohl, dass sie umzieht und keine Fernbeziehung wollte.

Erst gegen ein Uhr gehe ich ins Bett, wohlwissend, dass ich nicht aus dem Bett kommen werde, um in die Schule zu gehen. Aber es hat gutgetan, einfach mal über alles zu reden, alles rauszulassen, was einen schon länger belastet hat.
Nun kann ich mich wohl wieder ganz meinem Spiegel widmen und vielleicht ein paar Missgeschicke abwenden. Vielleicht. Haha.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt