106 - (K)ein Aufeinandertreffen

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Minuten verstreichen, in denen ich nur hilflos dasitzen kann. Langsam wird mir bewusst, womit die anderen es immer zu tun haben, wenn sie mich beruhigen wollen. Es ist alles andere als leicht.

Die langsam näherkommenden Sirenen setzen einen Schwung Erleichterung frei.
Ich stehe schnell auf, hole jedoch sofort zischend Luft. Ich muss mir bei meiner kleinen Verrenkung gestern wirklich etwas getan haben, als ich Amelie vor dem Fallen bewahrt hatte.
„Hörst du das? Gleich werden dir die Schmerzen genommen. Ich muss sie aber holen, okay?"
Sie gibt nur ein schwaches Nicken von sich. Die Arme.

Das kühle Metall der Türklinke fühlt sich bei der sonstigen Hitze gut an. Doch blöd ist, wenn in diesem Moment die Tür von außen geöffnet wird.
„Autsch." Ich stolpere nach hinten und halte mir die Stirn. Habe ich ernsthaft nicht gemerkt, wie Papa die Tür aufgeschlossen hat?
„Oh, Fine. Hab ich dir wehgetan?" Seine Worte werden vom Martinshorn zum Ende hin verschluckt. 
„Geht", blocke ich ab und gucke in die tanzenden Blaulichter. Oli springt aus dem NEF.
„Bitte was?", entfährt es Papa direkt aufgeregt.
„Im Garten. Amelie ist Trampolin gesprungen und ich war kurz im Haus und dann habe ich einen Knall gehört und dann..." Ich gestikuliere hektisch in der Gegend herum.
„Fine, beruhige du dich erst mal und hol Luft", kommt es von Oli, der schon längst vor in den Garten gegangen ist. Flo, Jacky und Dustin gehen ihm hinterher.
Ich lege einen Zahn zu, um mit Oli Schritt zu halten.
„Mensch Mäuschen, was hast du denn gemacht?" Oli kniet sich zu Amelie runter.
Sie bringt nichts hervor, ihre Schluchzer verstärken sich nur wieder.
„Ich kann nicht wirklich sagen, was passiert ist. Ich hab das nicht gesehen", gebe ich alles preis, was ich weiß. Also nichts.
Behutsam nimmt Oli ihren rechten Arm in seine Hände.
„Aua!", schreit sie und weint noch mehr, wenn das überhaupt noch geht.
Oli sieht nicht begeistert aus. „Sieht mir nach einer Fraktur aus. Einmal bitte Zugang und schienen", murmelt er zu seinem Team, dann wendet er sich wieder Amelie zu. „Hast du sonst noch woanders Schmerzen? Oder womit bist du aufgekommen?"
Amelie verneint und sagt, dass sie nur wirklich doll auf ihren Arm gefallen ist, Oli macht nichtsdestotrotz noch einen schnellen Bodycheck. 
Ich drehe mich zu Papa, der noch immer ziemlich verwirrt guckt. Doch die Bewegung war zu unbedacht. Fluchend halte ich mir die linke Seite.
„Bei dir ist alles okay?", hinterfragt Oli skeptisch. Wieso musste er auch genau in diesem Moment gucken?
„Jup, alles schick." Ich quäle mir ein Lächeln ab. „Hab mich nur falsch bewegt."
Mit einer hochgezogenen Augenbraue nimmt er das Schmerzmittel, welches ihm von Jacky hingehalten wird, entgegen und verabreicht Amelie alles über den Zugang. „Gleich wird es besser. Wir bringen dich jetzt ins Auto."
Leider geht Oli nicht gleich ebenfalls dorthin. Ich gerate vorher noch mal unter seine kritischen Augen. 
„Was hast du da gemacht?"
„Wirklich nichts. Habe mich gestern einmal falsch bewegt und jetzt tut das eben ein bisschen weh."
„Aha. Lass mich mal gucken."
Ich stöhne genervt auf, kassiere von Papa dafür jedoch einen warnenden Blick. Meine Güte, wenn es ihn glücklich macht.

Tja, Oli konnte nichts feststellen, was eine Bedrohung darstellt. Wie ein Wunder. Dafür hat er mir am RTW ein Kühlpack für meine Stirn aktiviert und in die Hand gedrückt.

„Das ist doch alles meine Schuld." Ich stütze meinen Kopf mit dem Gesicht voran auf meine Hände. Das Kühlpack noch immer an meine Stirn drückend.
Amelie bekommt gerade einen Gips, Papa ist bei ihr und ich warte im Empfangsbereich der Notaufnahme. Danach kann sie zum Glück wieder nach Hause.
„Wieso denkst du das denn?" Phil lehnt neben dem Stuhl an der Wand, seine Arme sind verschränkt.
„Darum. Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen. Nur, weil ich noch mal kurz im Badezimmer war. Aber ich habe ihr eigentlich gesagt, dass sie nicht hüpfen soll, wenn ich im Haus bin."
„Und du denkst, es wäre anders ausgegangen, wenn du zugeguckt hättest? Du hättest doch eh nichts machen können."
Meine Schultern heben sich. Vielleicht hat er ja recht. Aber trotzdem fühle ich mich schuldig. Ich stürze alle Mitmenschen ins Unglück, wenn es mich selbst mal nicht betrifft.
„Mal was anderes. Soll ich mir deine Seite mal genauer angucken?", fragt er.
„Nein, geht schon."
Ich richte meinen Blick nach oben, weil die Türen der Notaufnahme aufgehen. „Sieht nach Arbeit für dich aus", murmele ich. 
Und schon verschwindet Phil mit wehendem Kittel und einem Patienten nach hinten.

*****

Mit einem flauen Gefühl im Magen sitze ich bei Alex im Auto.
„Du bist blass, dir geht es wirklich gut?"
„Ja verdammt", fauche ich ihn an. In fünf Minuten beginnt der Unterricht. Verschlafen am ersten Schultag, nicht so optimal.
„Also nein", stellt er trocken fest und biegt scharf nach rechts ab. „Das wird schon. Ignoriere Tim einfach", gibt er mir einen super schlauen Tipp.
Ich schnaube. „Klar, weil das so leicht geht, ne?"
Alex haut auf die Hupe und tritt die Bremse durch. Ich werde in den Sitz gedrückt. So ein kleiner Autounfall, der mich vor der Schule bewahren würde, wäre jetzt schon nicht schlecht. Doch leider folgt kein lauter Knall. 
„Was ein Vollidiot. Wo hat der seinen Führerschein ausgegraben?", flucht Alex wütend.
„Schade. Hätte ja klappen können", nuschele ich schon fast enttäuscht.
„Oh ja, darauf hätte ich jetzt auch richtig Bock gehabt." Alex' Stimme trieft vor Ironie.
Von den Varianten, die Anni und ich durchgespielt haben, gefällt mir wohl das Happy End am besten. Tim und ich sprechen uns aus und wir kommen wieder zusammen.
Über meine eigenen Gedanken könnte ich lauthals loslachen. Aussprechen. Als wäre das ein kleiner Streit zwischen Freunden.
Ich werde ihm wahrscheinlich nie wieder in die Augen gucken können.
Aber irgendwo tief in mir gibt es noch diesen kleinen Faden Hoffnung, an den sich mein Körper mit aller Kraft klammert. Und dafür könnte ich mich selber auf den Mond schießen.

Außer Puste komme ich schlitternd vor unserem Klassenraum zum Stehen. Natürlich haben wir jetzt in der obersten Etage, wo auch sonst.
Mit dem Klingeln nehme ich die Klinke in die Hand und hetze zu meinem Platz.
„Das war aber wirklich mehr als knapp", bemerkt Frau Gerlach. Ja ja, schön, das weiß ich selbst.
Mein Blick scannt den Raum systematisch ab. Und da sitzt - warte. Nein, da sitzt Tim nicht. Aber...
„Er ist noch nicht da, vielleicht hat er auch verschlafen", flüstert Anni.
Mein Magen dreht sich um. Einmal. Zweimal.
Frau Gerlach setzt gerade du einer Begrüßung an, als es an der Tür klopft. Das muss Tim sein.
Ich drücke mir die Handballen gegen meine Augen, will vermeiden, ihn zu sehen. Obwohl das auf kurz oder lang eh nicht geht.
Die Tür öffnet sich geräuschvoll.
„Na dann, ich wünsche dir einen guten Start." Warte, war das nicht der Schulleiter?
„Das ist nicht Tim", stellt Anni leise und irritiert fest.
Mein Herz stolpert vor Erleichterung, als ich nach vorn gucke. Und nein, es ist wirklich kein Tim. Aber ein anderer Junge, den ich noch nie gesehen habe.
„Dann einen guten Morgen, ich hoffe, ihr hattet tolle Ferien", begrüßt uns Frau Gerlach nun. „Wie ihr seht, haben wir ein neues Gesicht in der Klasse."
Erneut ein Klopfen, bevor sie einen weiteren Satz sagen kann.
Das muss jetzt aber wirklich Tim sein.
Mein Magen dreht sich zum dritten Mal um.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt