107 - Gerissener Faden - Gerissene Wunde

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Die Tür wird erneut geöffnet. „Hier, den hatte ich jetzt ganz vergessen." Der Schulleiter drückt dem neuen Schüler einen Zettel in die Hand und verschwindet dann wieder.
„Stell dich einfach kurz vor, danach kannst du dich dort neben Leon setzen." Frau Gerlach deutet auf den Platz, auf dem eigentlich Tim immer sitzt.
Schon jetzt läuft das Gesicht des Jungen rot an. „Ich bin Nils und erst seit kurzem hier. Ursprünglich komme ich aus Hamburg, bin dann aber wegen meiner Eltern umgezogen und wohne jetzt hier in der Nähe", kommt es knapp von ihm, ehe er sich fast fluchtartig auf den Tisch zubewegt. Er scheint sehr schüchtern zu sein.

Frau Gerlach klatscht in die Hände und atmet kurz durch. „Ich muss euch noch etwas mitteilen", beginnt sie.
Und die folgenden Worte versetzen mir auf unerklärliche Weise einen Schlag in die Magengrube. Aber ordentlich. „Tim hat die Schule verlassen. Er hätte sich gern persönlich von euch verabschiedet, bekommt das zeitlich aber nicht hin. Mehr Infos habe ich dazu jedoch auch nicht wirklich."

Augenblicklich spüre ich brennende Tränen in meinen Augen. Warum ist diese Nachricht so negativ überwältigend für mich? Eigentlich sollte ich froh sein, dass ich ihn nie wieder sehe. Er hat mich verletzt, ich sollte keinerlei Gefühle ihm gegenüber in Erwägung ziehen. Aber es geht nicht. Dieser eine kleine Faden an Hoffnung, der noch in mir ist. In mir war.
Meine Gedanken verknoten sich zu einem riesigen Knäul, welches nichts mehr zulässt. Welches keinen kleinsten Gedanken wirklich greifbar macht.
Erst, als ich etwas auf meine Hand tropfen spüre, merke ich, dass sich die ersten Tränen an die Freiheit gekämpft haben.
„Komm, wir gehen mal kurz raus", raunt Anni mir zu und steht auf.
Ich handle ohne Sinn, ohne Verstand. Folge ihr einfach, ohne wirklich etwas zu steuern.
Mir wäre lieb gewesen, wenn mir auch noch die Blicke meiner Klasse erspart geblieben wären, aber genau diese muss mein Knäul an Gedanken doch noch verarbeiten.

„Es ist doch gut, wenn du ihn nicht mehr sehen musst", spricht Anni die pure Wahrheit aus.
Kann das bitte bei mir ankommen, dass es wirklich die Wahrheit ist? Nein? Wäre auch zu schön gewesen.
Der letzte Faden Hoffung zerreißt. Mein Körper lässt los.
Es ist, als hätte dieser eine Faden meine innere Wunde, die Tim hinterlassen hat, zusammengehalten. Und nun ist sie in vollem Umfang wieder auf.
Ich lehne am Schulgebäude, drücke meinen Kopf beinahe schmerzhaft gegen die Wand. Ich will, dass Tim einfach aus meinen Gedanken gelöscht wird.
Ist das denn so verdammt schwer?
Die Luft ist schwül, sie scheint mich einzuengen. Am liebsten würde ich jetzt einfach schreien.

Anni sagt nichts, sie reicht mir wortlos ein Taschentuch, welches ich jedoch in meinen zitternden Händen zerfleddere, statt es zu benutzen.
Einige Meter neben uns geht die Tür auf.
„Josefine, ist alles okay mit dir?", spricht eine grässliche Stimme.
Ich öffne meine Augen, die vom Weinen inzwischen rot sein müssen. Diese Schlange hat mir gerade noch gefehlt. Wieso muss sie auch genau jetzt einen Stapel Bücher von A nach B tragen?
„Ob alles okay mit mir ist? Das fragst du mich?", presse ich hervor. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ich dachte, wir hätten das in der Klinik geklärt. Anscheinend tut sie nicht nur einen auf dumm, sondern ist es auch wirklich.
Wenn Mia nicht augenblicklich aus meinem Sichtfeld verschwindet, hatte sie bis jetzt noch eine schöne Nase.
„Äh..." Sie mustert mich verwirrt.
„Verschwinde einfach", fauche ich. Meine Fingernägel bohren sich langsam schmerzhaft in meine Handflächen.
Doch Mia hört. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, geht sie schleunigst weiter. Ihr Glück.

Der Schultag verläuft schleppend. Ich höre, wie dem Neuen leise zugetuschelt wird, weshalb ich so auf diese Nachricht reagiert habe. Sollen sie doch.
Mein Knäul an undurchdringlichen Gedanken hat sich zu einem einzigen Gedanken verwandelt. Oder eher zu einer großen Erkenntnis: Ein fester Freund aus der eigenen Klasse ist nicht wirklich vorteilhaft.
Aber was soll man machen, wenn es eben genau diese eine Person ist?

Das Klingeln zum Ende des letzten Blockes ist eine Erlösung für mich. Raus aus diesem Gebäude, raus aus meinen gefangenen Gedanken. Wobei letzteres schwer werden dürfte, aber draußen fällt mir das bestimmt leichter als in der Schule.
Auf dem Weg nach draußen komme ich an dem Tisch vorbei, an dem Nils in diesem Block saß.
„Mir tut das wirklich leid, was passiert ist", sagt er unvermittelt.
Verwirrt drehe ich mich um und ziehe meine Augenbrauen zusammen. „Okay?" Was soll ich denn darauf antworten? Warum sagt er mir das überhaupt so aus heiterem Himmel?
Und schon bin ich hinter Anni her und aus dem Schulgebäude geflüchtet.
Ich weiß nicht, aber dieser Nils ist mir irgendwie jetzt schon unsympathisch.

„Fine? Was ist los mit dir?" Alex steht von der Couch auf und folgt mir in die Küche, wo ich an der Arbeitsplatte lehne und ein Glas Wasser trinke. Wasser, irgendwas ist mit mir nicht in Ordnung.
„War der erste Schultag nicht so gut?" Er verzieht sein Gesicht und sieht beinahe etwas ängstlich aus. Vielleicht hat er vor meiner Reaktion auf Tim Angst.
Ha, der ist ja gar nicht mehr da. 
„War entspannt", brumme ich schulterzuckend und kämpfe gegen die aufkommenden Gedanken an. Mein Gedankenknäul hat sich wirklich gelöst, als ich aus der Schule getreten bin. Aber dass das, was jetzt in meinem Kopf abgeht, besser ist, bezweifle ich mal so richtig.
„Tim gibt es nicht mehr", sage ich leise und habe sofort wieder sein Bild vor Augen. Gut, das habe ich schon den ganzen Tag.
„Was?" Alex guckt mich erschrocken an.
„Nein, nicht so. Ich hab mich doof ausgedrückt. Er macht kein Abi mehr", präzisiere ich meine Aussage. 
„Ach so." Seine Körperhaltung lockert sich sofort.
Der dachte doch nicht ernsthaft, dass Tim etwas passiert ist.
„Alex, nimm das nicht persönlich, aber ich brauche Zeit für mich allein."
Im Augenwinkel sehe ich noch, wie er nickt.

Beim Abendessen stochere ich lustlos im Essen herum. Wieso muss es genau heute ganz einfache Nudeln mit Tomatensauce geben? Tim hat das auch immer gekocht...
Phil, Alex und Paula schweigen. Toni ist bei Jamira, Papa ist noch auf Arbeit.
Wir haben das Essen etwas vorverlegt , damit Phil und Paula auch essen können, bevor sie zur Nachtschicht müssen.
„Leute, ich habe einfach keinen Hunger", sage ich, nachdem ich eine einzige Nudel in meinen Magen befördert habe. Geht nicht.
Komischerweise nicken sie verständnisvoll, weshalb ich aufstehe und wieder nach oben verschwinde. Wieso um alles in der Welt nimmt mich das so mit, dass ich ihn nicht mehr so leicht sehen werde? Warum? War mein kleiner Rest an Hoffnung wirklich so präsent, dass der mir richtig vorgaukeln konnte, dass zwischen Tim und mir nochmal was werden kann?

Mir ist kalt. Die Sonne steht schon tief am Himmel, ist kurz vor dem Untergehen.
Ich raffe mich vom Bett auf, um mir einen Pulli aus meinem Schrank zu nehmen. Einen ganz bestimmten Pulli.
Für den muss ich jedoch meinen halben Schrank durchwühlen - und finde etwas, das mir den letzten Rest gibt. Ich habe total vergessen, dass ich noch einen Pulli von Tim im Schrank habe.
Die Tränen kommen ungewollt, es lässt sich nichts gegensteuern.
Genau daneben ist jedoch der dicke Pulli, den ich gesucht habe.
Ich ziehe mir ihn schnell über, knalle meine Schranktür zu und laufe die Treppe runter. Ein kleiner Spaziergang mit Musik wird mir helfen. Hoffentlich.
„Wohin willst du um diese Uhrzeit?", fragt Alex aus dem Wohnzimmer.
„Einfach ein bisschen an die frische Luft", antworte ich knapp.
„Aber es ist...", beginnt Alex, doch ich unterbreche ihn.
"Schon etwas später, aber das ist mir egal. Ich hab mein Handy bei."
Die letzte Schleife ist an meinen Schuhen gemacht und ich ziehe schnell die Haustür hinter mir zu. Einfach laufen und den Kopf freibekommen. 

Ich nehme meine Umwelt nicht wirklich wahr, achte nicht darauf, wo ich überhaupt hinlaufe.
Die Musik schallt durch meinen Kopf, quetscht sich zu Beginn noch schwerfällig durch die kleinsten Lücken, die meine Gedanken ihr lassen. Doch mit der Zeit schwinden die Gedanken und die Musik hat allen Platz meines Kopfes.
Genau diesen Effekt habe ich mir erhofft.

Die Sonne ist bereits vollständig untergegangen. Es ist auch schon fast 23 Uhr. Fünf verpasste Anrufe von Alex, als ich meinen Flugmodus ausmache. Passiert.
Ich nehme einen Stöpsel aus meinem Ohr, muss mich kurz orientieren, wo ich überhaupt bin.
Doch dabei werde ich schnell unterbrochen.
„Na Puppe, was machst du denn noch so spät allein hier draußen?"

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt