84 - Überall lauert eine dunkle Überraschung

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Sicht Paula

Phil legt den Rucksack auf den Boden und nimmt sofort ein Stifneck, um es an Alex weiterzureichen. 
„Fine, kannst du mir sagen, was passiert ist?" Ich beuge mich in ihr Blickfeld.
„Ähm...Nein?"
„Mh, okay. Alex, Phil? Was ist genau passiert?"
Alex schildert mir deren Vermutung, während ich meine Pupillenleuchte zur Hand nehme. „Guck mal bitte auf meine Nase ... Okay, Pupillen isokor. Hast du denn irgendwo Schmerzen?"
„Mein Kopf. Und irgendwie mein linkes Handgelenk", murmelt sie.
Ich taste ihren Kopf ab und gucke danach auf meine Hände. Wie ich es mir gedacht habe, sie hat eine Platzwunde. Aber dafür ist wirklich extrem wenig Blut an meinem Handschuh.
Dann nehme ich noch ihr Handgelenk und bewege es etwas, wobei sie zischend Luft holt.
„Mhm, es kann sein, dass du dich abfangen wolltest und dir das so verstaucht hast. Werden wir in der Klinik noch mal genauer untersuchen. Kannst du dich denn vorsichtig aufsetzen, damit ich mir deinen Kopf mal genauer angucken kann?"
Langsam hilft Alex ihr dabei, ihren Oberkörper aufzurichten. Dann setzt er sich so hin, dass sie sich an ihn lehnen kann.
„Geht's?", versichere ich mich.
„Mir ist etwas schwindelig", nuschelt sie und schließt ihre Augen.
„Augen bitte auflassen, okay?", untersage ich ihr gleich mal diese Aktion.
„Was ist denn überhaupt passiert?", fragt sie schließlich.
Bitte nicht. Es war ja klar, dass das wieder so schlimm kommen muss. Super.

Es ist ein ekelhaftes Gefühl, einen Einsatz in seinem Haus zu haben. In seinen eigenen vier Wänden, wo du Tag ein Tag aus aus- und eingehst. Und dann bist du plötzlich hier, in Einsatzkleidung kniest du neben einem Menschen, der dir so viel bedeutet. Kein schönes Gefühl, überhaupt nicht.
Wäre Fines Bewusstsein wenigstens unauffälliger. Aber nein, wenn ihr was passiert, dann immer mit vollem Programm.

„Phil, Alex, guckt mal. Das hätte ich jetzt nicht erwartet." Ich halte Fines Haare aus dem Weg, die uns sonst den Blick auf die Wunde verdecken. Diese ist jedoch wirklich klein und unscheinbar. Außer einer Reinigung kann man da später nichts machen. Da wurde Fine wohl doch etwas Glück gegönnt.
„Rettungsdienst!", ruft eine männliche Stimme durchs Haus, die uns auseinanderfahren lässt.
„Ich hole sie." Phil steht auf und geht los. 

Die RTW-Besatzung kannte ich nur flüchtig. Deswegen haben die anscheinend auch so lang gebraucht.
Von Phil und Alex wurde Fine in den RTW gestützt. Ich wollte nicht, dass sie vielleicht noch Panik bekommt, wenn das zwei fremde Sanitäter machen. 
Nachdem sich Franco noch versichern konnte, dass Fine stabil ist und es ihr den Umständen entsprechend geht, konnten wir abfahren. Franco mit dem NEF hinterher und Phil, Alex und Anni mit dem Auto.
Es könnte jedoch noch etwas dauern, bis Fines Bewusstsein langsam wieder klarer wird.

Sicht Josefine

Verwirrt gucke ich zu Alex, der am Tisch sitzt und auf sein Handy starrt. Phil steht am Fenster, wippt nervös mit seinem Fuß und fährt sich ständig durch seine Locken. Was ist denn hier los? Haben Anni und ich uns nicht gerade noch für die Party fertiggemacht? Wie lande ich dann im Krankenhaus? 
Ich hebe meine Bettdecke an, was mir die Aufmerksamkeit der beiden einholt.
Statt der erwarteten Kleidung, die Anni und ich rausgesucht haben, trage ich eine kurze Hose aus dünnerem Stoff und ein einfaches schwarzes Top mit Spaghettiträgern. Mein Kopf besteht gerade einfach nur aus einem großen Fragezeichen.
„Leute, was ist passiert? Und wieso habe ich solche Kopfschmerzen?" Mein Blick liegt auf Alex, dann auf Phil, wieder auf Alex, auf Phil. Kann mal einer reden?
„Du bist im Badezimmer ausgerutscht und mit deinem Kopf aufgekommen. Commotio Cerebri." Alex grinst mich schief an.
„Warum grinst du so doof?"
„Weil ich das in spätestens drei Minuten erneut sagen darf."
Ich tippe mit meinem Finger gegen die Stirn. Der hat sie doch nicht mehr alle.
„Aber wir wollten doch gerade zur Party. Phil? Musste ich noch mal auf Toilette oder was? Wie konnte ich denn da ausrutschen? Und wo ist Anni? Scheiße, jetzt habe ich ihr den Abend ja versaut." Ich schlage meine Decke zurück und will aufstehen, doch Phil ist schneller und setzt sich auf mein Bett.
„Warte kurz. Du weißt, was passiert ist?"
Meine Augenbrauen heben sich. „Ihr habt mir das doch gerade gesagt."
Phil dreht sich zu Alex. „Sie ist wieder da. Aber es fehlt ein Stückchen."
„Wie jetzt? Was fehlt denn?"
„Es ist zwar inzwischen schon wieder Abend, aber der nächste. Du kannst dich daran nicht erinnern?"
Ich schüttele meinen Kopf. „Kannst du vielleicht auch mal so reden, dass ich dich verstehe? Wäre sehr reizend."
Phil atmet durch. „Wir sollten warten, ob deine Erinnerung an die letzten Stunden vor dem Unfall von allein zurückkommt." 
„Phil? Du machst mir Angst. Warum klingst du so ernst? Und was wollte ich verdammt noch mal im Badezimmer?"
Er beißt sich auf die Unterlippe, seine Augen weichen meinem Blick aus.
„Hallo? Redet einer von euch mit mir?" Alex scheint in seiner Ecke komplett zu versinken.
„Wir zwei hatten eine kleine Auseinandersetzung, vor der du geflüchtet bist. Aber wirklich, du musst selbst probieren, dich zu erinnern. Das kann eine Weile dauern. Aber ich hoffe, dass du wieder darauf kommst." Endlich erwidert er meinen Blick. Und sofort wünsche ich mir, dass er das gelassen hätte. Wieso sieht er so traurig aus? Wieso spiegelt sich in seinem Blick so viel Mitleid, aber auch Schuld wider?
Was um Himmels willen ist passiert?
„Ihr wisst, dass ich mich auch an nichts mehr erinnern kann, was damals in der Schule passiert ist. Was ist, wenn hier auch keine Erinnerungen mehr kommen?", gebe ich meine Bedenken preis.
„Wir warten ab. Anni kommt morgen vorbei. Ich habe auch schon eine Idee, was vielleicht helfen könnte." Phils Lippen bilden eine Art Lächeln. Glaube ich zumindest, denn es sieht einfach nur schräg aus.
„Aber irgendwie kommt mir das total abgefahren vor. Wir beide sollen eine Auseinandersetzung gehabt haben?"
Phil nickt langsam. „Ja, das hatten wir. Und dafür könnte ich mich selbst ohrfeigen."
Das ist komisch. Phil und ich geraten eigentlich nie aneinander. Nie. Und jetzt soll es so gewesen sein? Das muss ja was großes gewesen sein, dass das so gekommen ist.

Die beiden machen mir Angst. Paula und Papa sind mir da keine Hilfe, die ebenfalls total bedrückt scheinen, als sie vorbeikommen.
Mein Gefühl sagt mir, dass es ganz und gar nicht gut gewesen sein kann, was da abgelaufen ist.

Meine Gedanken treiben mich in der Nacht so weit in den Wahnsinn, dass ich kein Auge zumachen kann. Kurz entschlossen stehe ich auf, kämpfe gegen den Schwindel an und schlüpfe in meine Schuhe. Mein Handy zeigt kurz vor zwölf, zwar noch nicht ganz so spät, aber das wird hier nichts mehr.
Phil hat sich vorhin zur Nachtschicht verabschiedet. Vorteil: zur Nachtschicht hier in der Notaufnahme.  
Ohne jegliche Geräusche zu verursachen, schleiche ich mich ins Treppenhaus, um nach unten in die Notaufnahme zu kommen. Hoffentlich hat Phil gerade nichts zu tun, ich muss mit ihm reden.

Ich bin fast in der letzten Etage angekommen, da höre ich plötzlich eine Tür zufallen. Das kam von unten. Ein leises, kaum hörbares Fluchen folgt. Die Schritte der Person sind so gut wie nicht zu hören.
Mein Körper spannt sich augenblicklich an. Wer macht sich hier solche Mühe, so leise die Treppen hochzugehen? Abgesehen von mir, aber ich bin eine Patientin, die strengste Bettruhe hat. Ein Arzt oder ein Pfleger würde niemals so leise sein.
Mir wird komisch. Unwillkürlich fange ich das Zittern an. Ein Gefühl der Angst umhüllt mich unvorbereitet, mein Magen fühlt sich an, als hätte sich dort ein Stein niedergelassen. Meine Gedanken gehen nun endgültig mit mir durch. Es ist soweit, ich werde verrückt. Bekomme gerade anscheinend Halluzinationen. Gehört das etwa zu den Folgen einer Gehirnerschütterung? 
Ich klammere mich kurz am Geländer fest, kneife meine Augen zu und atme tief durch. Das Gefühl verschwindet jedoch nicht.
Erneut klickt eine Tür. „Hallo?", ruft jemand ins Treppenhaus. Ich kenne die Stimme, das war eindeutig Pfleger Tobi. Die gerade noch minimal hörbaren Schritte verwandeln sich in ein Rennen.
Ich reiße meine Augen auf - doch da ist es schon zu spät.
Wie in einem schlechten Film.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)

7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt