108 - Blinde Verfolgung

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Ich bleibe abrupt stehen - das genaue Gegenteil von dem, was ich in dieser Situation eigentlich machen sollte. Mein Finger schwebt noch immer über der Liste meiner letzten Kontakte und drückt automatisch auf Alex' Nummer. Während ich noch verbunden werde, stecke ich mein Handy in die Hosentasche.
Es ist, als wäre ich festgewachsen. Wieso bewegen sich meine Beine nicht?
Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich fahre panisch herum.
„Hübsch siehst du aus", lallt er und grinst mich wie ein Irrer an.
Ich wende mich unter seinem Griff und drehe mich zum Gehen um. „Lassen Sie mich in Ruhe!", sage ich mit Druck und der Hoffnung, dass Alex mich hört.
„He Kleines, sei mal nicht so aggressiv, ich will nur ein bisschen Spaß", lallt er weiter. Der ist besoffen, ganz sicher.
Meine Schritte werden größer, schneller. Ich gucke mich panisch um, doch hier ist keine Menschenseele. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals.
Rennen. Ich muss rennen.
Doch er verfolgt mich. Der Mann bleibt mir dicht auf den Fersen.
Meine Schritte, nein, unsere Schritte prallen hart auf den Betonplatten ab.
Meine Gedanken rasen an mir vorbei, so wie die Umgebung. Ich bin noch nie so schnell gerannt - und der Mann anscheinend auch nicht. Wie kann der so schnell sein, wenn er sichtlich eine beträchtliche Menge Alkohol intus hat?
Das Adrenalin bringt mich zu einer Leistungsfähigkeit, die ich nie zuvor erreicht habe.
Und dann, es scheint mir noch so weit in der Ferne, taucht ein hell erleuchtetes Gebäude auf.
Die Klinik, ich wusste es doch. Mir kam die Umgebung bekannt vor.
Es ist, als würde mein Körper aus dieser Erkenntnis Kraft tanken. Meine Beine tragen mich noch schneller.
Ein kurzer Blick über meine Schulter verrät mir jedoch, dass auch der Mann gerade ziemlich viel Kraft hat. Na gut, er wird so oder so mehr Kraft haben als ich.

In der Einfahrt stehen ein RTW und ein NEF. Ich kann den beiden Fahrzeugen gerade noch so ausweichen. Mein Verfolger auch.
Ich drücke die Klinke bis zum Anschlag nach unten, habe das Gefühl, ich könnte sie glatt abbrechen, und stürze in die Notaufnahme. Mitten im Empfangsbereich bleibe ich stehen, stütze meine Hände auf meinen Oberschenkeln ab, ringe nach Luft.
Plötzlich werde ich von hinten gepackt. „Na endlich, ganz schön widerspenstig." Seine Alkoholfahne steigt mir in die Nase und treibt mir Übelkeit ein. Hat er nicht gecheckt, wohin er mir gefolgt ist?
Mein Körper macht schlapp, er hat keine Chance mehr, sich gegen diesen Mann zu wehren. Aber ich bin doch in Sicherheit, oder?
Und dann wird er wirklich mit voller Wucht von mir weggezogen.
„Was soll das werden?", schreit Phil mit einer enormen Aggressivität in der Stimme. Phil?
Ich drehe mich um. Die Umgebung dreht sich, mir ist einfach nur noch schwindelig. Mein Hals ist trocken, er schreit förmlich nach Flüssigkeit. Und von meiner Sauerstoffzufuhr will ich gar nicht erst anfangen.
Phil steht in seiner Notarztkleidung da und hat den Mann fest im Griff. Gisela ist hinter dem Empfang, hat den Telefonhörer schon am Ohr.
Und ich stehe hier noch immer verloren da.

„Was um alles in der We..." Die Stimme bricht ab. Paula erscheint neben mir.
„E-er wollte...", stottere ich, doch es kommt nicht mehr über meine Lippen.
„Was wolltest du von ihr?" Phils Stimme ist schneidend scharf.
„Nur ein bisschen Spaß. Kumpel, beruhige dich. Oder gehört die Kleine dir?" Er spricht so verwaschen, es ist anstrengend, ihm zuzuhören. Vielleicht liegt es auch an meinen rauschenden Ohren.
„Hast du gesehen, wie alt sie ist? Du bist doch nicht mehr ganz dicht!"
Der Mann hat sich lange nicht gewehrt, doch plötzlich beginnt er, sich aus Phils Griff zu kämpfen. Und er schafft es nach einem Tritt gegen Phils Schienbein auch.
Kaum habe ich mich versehen, macht er einen Hechtsprung auf mich zu und reißt mich zu Boden. Es kommt mir wie in einem schlechten Actionfilm vor, der vorne und hinten übertrieben dargestellt wird. Nur leider ist das hier gerade kein billiger Film.
Er drückt meinen Kopf auf die harten Fliesen. Ein dumpfer Schmerz durchschießt diesen. Scheiße war das ein harter Aufprall.
Sein ganzes Gewicht liegt auf mir. Das ist nicht wenig.
Umso leichter fühle ich mich in der nächsten Sekunde, denn schon wieder ist es Phil, der mich befreit. 
„Haben wir uns irgendwo nicht verstanden?", faucht Phil wütend, der sein Knie im Kreuz des Mannes hat. Da kann der Typ sich nun noch so doll wie ein Aal an Land winden, Phil hat ihn sicher im Griff.
Paula hilft mir auf meine zittrigen Beine und nimmt mich in den Arm. Nur langsam kann ich diese ganze Situation realisieren.
„Alex", nuschele ich und löse mich von Paula. Ich greife in meine hintere Hosentasche und ziehe mein Handy raus. Das Display muss durch diesen Sturz gerade zersprungen sein. Aber Alex ist wirklich noch dran.
„Alex?" Meine Stimme zittert. So wie meine Hand, wie mein ganzer Körper.
„Fine, wo bist du? Was ist passiert verdammt?" Seine Stimme überschlägt sich.
„In der Klinik", flüstere ich und spüre die ersten Tränen.
Paula nimmt mir mein Handy ab und spricht selbst kurz mit Alex.

In dieser Zeit spiegelt sich auch endlich ein Blaulicht in der Tür der Notaufnahme, woraufhin Türen knallen und Stephan und Robin erscheinen.
Sie lösen Phil ab, der ohne Umschweife ebenfalls zu mir kommt und mich einfach fest umarmt.
Mein Körper löst sich aus der Verkrampfung und drückt sich praktisch gegen Phil. Seine Wärme zeigt mir Sicherheit.
Es folgen die typischen Sätze, die er immer zur Beruhigung sagt.
Es ist nichts passiert.
Das wiederhole ich in Dauerschleife, doch es will irgendwie keine Wirkung zeigen.

Phil lotst mich zu den Sitzen und drückt mich sanft runter, setzt sich aber sofort daneben und hält mich immer noch in seinen Armen. Paula setzt sich ebenfalls dazu.
„Habt ihr keine Patienten?", frage ich und wische mir ein paar Tränen weg.
„Frederik kümmert sich", sagt Paula leise. 
„Und Flo hat uns noch nicht bereit gemeldet", kommt es von Phil.
„Das war so knapp", stelle ich fest und zittere erneut mehr.
„Es ist alles gut", flüstert Phil in mein Ohr und drückt mich etwas fester.

Zum dritten Mal wird die Tür aufgerissen. Alex und Papa stürmen herein, hinter ihnen kommt Stephan vom Streifenwagen zurück.
„Meine Güte, Fine, was ist passiert?" Papa kniet sich vor mich hin. Alex tut es ihm gleich.
„Er hat mich einfach angesprochen und nicht von mir abgelassen", bringe ich leise hervor.
Ich sehe, wie Stephan im Hintergrund mitschreibt.
„Kannst du genau sagen, was er zu dir gesagt hat?", fragt Stephan.
Ich schlucke, wiederhole es dann aber stockend.
„Okay. Du müsstest nochmal auf die Wache, um eine richtige Aussage zu machen. Könntet ihr morgen vorbeikommen?"
„Ja, ich habe frei. Und in die Schule wird sie morgen sowieso nicht gehen", antwortet Phil für uns alle stellvertretend.
Stephan nickt und verabschiedet sich dann.

„Wie geht es dir?" Papas Augen strahlen Überforderung aus.
„Wie soll es mir schon gehen?", kontere ich schwach. 
„Aber er hat dich nicht angefasst, oder?", fragt nun Paula vorsichtig.
Sofort schüttele ich heftig den Kopf, was mir wieder Schmerzen bereitet.
„Was ist? Tut dein Kopf weh?" Alarmiert guckt Phil mich an.
„Ein bisschen. Ich bin da voll auf den Boden geknallt, als er sich auf mich geschmissen hat."
„Er hat sich auf dich geschmissen?", entfährt es Papa laut und fassungslos.
„Gerade in der Klinik, ja. Aber Phil hat sich dann sofort auf ihn gestürzt", erkläre ich schnell. „Können wir bitte einfach nach Hause? Ich will schlafen."
Alex stellt sich wieder richtig hin, beugt sich etwas zu mir runter und tastet kurz meinen Kopf ab. „Verletzt hast du dich anscheinend nicht. Aber wir müssen dich beobachten." Da kramt auch Phil seine Pupillenleuchte aus der Hosentasche und leuchtet mir in die Augen. „Alles gut."
„Könnt ihr auch bei uns machen." Nicht, dass die mich jetzt hier behalten wollen.
„Na kommt, geht nach Hause. Ihr wisst ja, worauf ihr achten müsst", entscheidet Paula, wofür ich ihr wirklich dankbar bin. 

Diese Nacht schlafe ich bei Alex, damit er sofort merkt, wenn etwas nicht mit mir stimmt.
Mein Schlaf war alles andere als ruhig. Ich bin immer wieder aufgeschreckt und habe mich verfolgt gefühlt. Alex' Beruhigungsversuche haben nicht allzu viel zu einer Besserung beigetragen.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)


7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt