85 - Zur falschen Zeit am definitiv falschen Ort

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Schwarz. Mehr sehe ich nicht. Erst, als mir die Hand von den Augen genommen wird, kann ich gegen das Licht anblinzeln. Ein enormer Druck liegt um meinem Hals, der droht, mir die Luft zu rauben.
Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Mein Blick wandert wirr durch die Gegend, bis er bei einer Person hängen bleibt. Pfleger Tobi, habe ich doch gesagt. Seine Augen sind weit aufgerissen, er ist gerade nicht fähig, etwas zu sagen. 
Meine Knie sind weich, aber sie haben gar keine Chance, mir weg zu knicken. Irgendwo ja auch ein Vorteil, immerhin stehe ich mitten auf der Treppe. Wäre blöd, wenn die jetzt wegknicken würden. Was denke ich hier überhaupt?
Ich spüre mein Herz im ganzen Körper schlagen. Höre es in den Ohren. Oder es ist das rauschende Blut. Eine Mischung aus beidem. Normale Atmung ist nicht mehr möglich. Zu hektisch, zu schwer.
„Lassen Sie das Mädchen los!" Er ist aus seiner Starre erwacht.
Hinter mir schnaubt jemand. Genauer gesagt der Schrank, der mich fest im Griff hat und mir immer mehr die Luft abdrückt. „Lassen Sie mich gehen, dann passiert der Kleinen hier auch nichts."
Die Stimme jagt mir einen ekelhaften Schauer über den Rücken.
„Was wollen Sie denn?"
„Ich habe schon, was ich brauche. Jetzt muss ich nur noch gehen können. Und wenn Sie die Polizei holen, dann", ich sehe im Augenwinkel etwas hervorschnellen, „hat die hier ihre lebendigste Zeit hinter sich." Das gehässige Lachen des Mannes unterstreicht, dass er das hier lustig findet. Er hat irgendwelche psychischen Problemen, ohne Zweifel.
Der zu Beginn noch verträgliche Schwindel wird immer schlimmer. Ich kann kaum noch klar sehen, immer doller dreht sich meine Umgebung.
„Luft...", japse ich verzweifelt. Ich brauche Luft.
„Oh, drücke ich zu fest?" Wieder dieses abgrundtief ekelhafte Lachen.
„Ja...", presse ich hervor.
„Ich will ja nicht so gemein sein. Immerhin kannst du ja eigentlich nichts dafür, ne?"
Der Druck lockert sich. Ich schnappe erleichtert nach Luft. Der Arm liegt zwar noch immer um meinem Hals, aber ich kann wieder atmen.
Es scheint, als würde ein Kieselsteinchen von meinem Herzen fallen, ist die Erleichterung noch so groß, dass ich ordentlicher Luft bekomme. Die Situation bleibt an sich zwar gleich, nur mit etwas mehr Luft eben. Doch mit diesem abfallenden Kieselsteinchen kommt ein großer Brocken dazu.
„Wir wollen ja nicht, dass du mir entwischen kannst", flüstert er scharf in mein Ohr. So scharf, wie das Messer an meinem Hals.
Und schon ist meine Atmung wieder so flach wie davor.
Erneut fällt eine Tür zu. Wieder von unten. Schnelle Schritte. Und die Schritte kommen mir leider viel zu bekannt vor.
„Was ist denn hier..." Die Person stockt mitten im Satz, als sie neben Tobi stehen bleibt. Jegliche Farbe verschwindet sofort aus dem Gesicht der Person. Tränen schießen mir in die Augen. Phil. Ich will nichts anderes als zu ihm. Jetzt.
„Lassen Sie sie sofort los!"
Danke für die Bemühungen, Phil, aber das wird nichts bringen.
„Wie ich schon Ihrem Kollegen gesagt habe, lasse ich sie erst gehen, wenn ich hier rauskomme. Ich setze sie dann auch eine Straße weiter aus, keine Sorge."
Mir wird übel. Von der Stimme, von der gesamten Situation, von meinen Gedanken.
Ich merke, wie das Messer an meinem Hals beginnt, zu zittern. Haben die hier nicht Security? Aber gut, sie können die schlecht holen, das würde eskalieren. 
Wenn der weiter so zittert, dann bin ich gleich nicht mehr unter den Lebenden.
„Phil..." Ich schluchze auf.
„Ach, du kennst die?", fragt der Typ hinter mir plötzlich interessiert. „Wird ja immer besser. Aber wenn ich jetzt bitten darf, ich würde jetzt gern gehen. Also lassen Sie mich durch?"
Tobi dreht sich um und will gehen, doch dagegen hat mein Geiselnehmer anscheinend etwas. „Halt, Sie bleiben hier. Sonst könnte ja jetzt die Polizei gerufen werden. Und das wollen wir ja dem Mädchen zugute nicht", säuselt er. Der ist krank, definitiv.
Phil und Tobi gehen langsam einen Schritt zur Seite. Sie wissen, dass es nichts mehr bringt.
In Phils Augen liegt die pure Angst um mich. Sie tut weh.
Ich werde geschleppt, bin ich doch gar nicht fähig, irgendwie zu laufen.
Langsam, Stufe für Stufe. Dabei drückt sich das Messer gefährlich gegen meinen Hals. Bei jeder unbedachten Bewegung würde mich das Messer schneiden.
Meine Gedanken rasen. Was war sein Ziel? Was hat er hier gemacht? Wo wollte er noch hin?
Doch die wohl größte Frage: Werde ich hier noch halbwegs unbeschadet rauskommen? Ich wollte doch nur zu Phil und mit ihm reden. Dann gibt es aber auch noch die unnötige Frage, die gar nicht in die Situation passt: Wieso wird hier keiner darauf aufmerksam?
„Hör auf zu heulen, mein Arm wird nass", faucht er mich plötzlich an. Verbunden mit einem entstehenden Brennen an meinem Hals. 
Ich habe gar nicht wirklich bemerkt, dass ich weine. Dafür spüre ich das Blut umso mehr, welches mir jetzt über den Hals läuft. Er hat den Druck kurz verstärkt.
Wir gehen an Phil und Tobi vorbei, betreten die nächste Treppe.
„Du kannst sie doch jetzt nicht einfach gehen lassen! Was machen wir denn jetzt?", höre ich Tobi sagen. Er hat sich darum bemüht, leise zu reden. Aber seine Aufregung ist zu groß.
Der Mann hinter mir lacht nur leise auf.
„Vertrau mir", flüstert Phil zurück, seine Stimme zittert.
Ruckartig werde ich umgedreht. Der Schrank droht, sein Gleichgewicht zu verlieren. Gerade so im letzten Moment kann er sich halten, dafür habe ich jedoch einen weiteren Schnitt kassiert, auch wenn nur einen leichten.
„Was soll das heißen? Was haben Sie vor?", fragt er Phil mit bebender Stimme. Ich spüre zuckende Muskeln. Aber das sind nicht meine.
Phil spannt sich an, schluckt hörbar. „Nichts. Ich vertraue Ihnen, dass Sie uns das Mädchen heil aussetzen." Phils Stimme ist erstaunlich fest. Nur, wenn man ihn gut kennt, sieht man, dass das eine glatte Lüge war. Er hat einen Plan. Und bitte lass den gut ausgehen.
Wortlos werde ich wieder umgedreht und die letzten Stufen und Treppen heruntergezerrt. Mit seinem Fuß tritt er schließlich die Tür zur Notaufnahme auf.
Ist der wahnsinnig? Ist ja nicht so, dass da jetzt etliche Patienten sitzen könnten. Obwohl Phil dann sicherlich nichts mitbekommen hätte. Und eingreifen würde wahrscheinlich eh niemand. Hoffentlich niemand, denn dann würde es nur eskalieren.

Und tatsächlich - die Notaufnahme ist voll. Aber nicht mit Patienten. Meine Gedanken setzen aus. Ich kann mir vorstellen, dass der Typ hinter mir jetzt zu allem fähig ist.

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Einen schönen Morgen, Tag oder Abend noch :)


7 Jahre Pech (Asds) |1/2|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt