Mit dir ist es was Besonderes- Kapitel 28

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Ich hatte meine Orientierung verloren. Das Einzige, was ich wahrnahm, war ein lautes Klingeln in meinen Ohren, welches immer lauter wurde. Leni und Viktor waren ein Paar. Ich würde sie jeden Tag gemeinsam sehen. Wahrscheinlich würde er in unserem Zimmer ein- und ausgehen und die Beiden würden sich dort wie Sibel und Pawel vergnügen. Dabei würde ich zusehen müssen und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Endlich konnte ich mich auf meinem Fahrrad abstützen. Länger hierbleiben konnte ich nicht, das würde ich nicht ertragen. Also schwang ich mich auf den Sattel und trat in die Pedalen. In unser Zimmer wollte ich jetzt nicht, also fuhr ich direkt zum Stadion. Das Einzige, was mir jetzt ansatzweise helfen könnte, war all meinen Kummer auf die Laufbahn zu packen und so schnell ich konnte zu rennen. Und genau das tat ich auch. Je länger ich lief, desto schneller wurde ich. Ich merkte gar nicht, wie unregelmäßig ich atmete und wie der Druck in meiner Brust immer größer wurde. Obwohl ich noch immer dagegen ankämpfte, rannen mir Tränen über die Wangen. Irgendwann schluchzte ich so stark, dass ich stehen bleiben musste. Mein ganzer Körper bebte. So viele Gefühle hatten sich in mir angestaut. Nun drohten die Dämme zu brechen und sie alle an die Oberfläche zu schwämmen. All meine Muskeln spannten sich an und ich schrie aus Leibes Kräften. Ich schrie all den Schmerz aus mir heraus, den ich nicht länger ertrug. Die unerwiderte Liebe Lenis und ihre Beziehung zu Viktor, die Affäre meines Vaters und die damit verbundene gescheiterte Ehe meiner Eltern, sowie die Tatsache, dass ich mir nun endgültig eingestehen musste, auf Frauen zu stehen, was meine Mutter nicht tolerieren würde, drückten mich zu Boden. Meine Beine gaben nach und ich schlug hart mit den Knien auf. Doch ich fühlte diesen körperlichen Schmerz nicht, alles war taub. Genau deshalb hatte ich nie jemanden an mich heran lassen wollen. Ich hatte solche Angst davor gehabt, verletzt zu werden. Doch es war schlimmer gekommen, als ich es mir je vorgestellt hatte.
Nachdem ich völlig erschöpft auf den Rasen gesunken war, hatte ich die Einsicht, nicht länger im gleichen Zimmer wie Leni wohnen zu können. Ihre ständige Nähe würde mir nur immer wieder schmerzhaft vor Augen führen, dass ich sie nicht haben könnte. Sie würde meine Gefühle nie erwidern, das musste ich mir nun eingestehen. Langsam begann sich meine Atmung wieder zu normalisieren. Ich schaute mich um und war erleichtert, als ich feststellte, dass mich wohl niemand gesehen hatte.

Zurück im Internat, machte ich mich gleich auf die Suche nach Frau Schiller. Nach einer Weile fand ich sie endlich in der Küche. „Frau Schiller, kann ich kurz mit ihnen reden?" fragte ich. „Ja klar, leg los." forderte sie mich daraufhin zum Sprechen auf. „Wäre es irgendwie möglich, die Zimmeraufteilung zu verändern? Ich weiß, dass alle Betten belegt sind und sich alle schon eingelebt haben, aber ich würde sie nicht darum bitten, wäre es nicht wirklich wichtig." erklärte ich. Anscheinend schien sie die ehrliche Betroffenheit und den Schmerz aus meiner Stimme herausgehört zu haben, denn sie erkundigte sich mit besorgtem Gesichtsausdruck: „Wie ich dich kenne, wirst du nicht darüber reden wollen, wie es zu deinem Wunsch kommt, oder?", worauf ich mit einem Kopfschütteln antwortete. „Okay, ich müsste trotzdem wissen, ob es an Leni oder an Sibel liegt, dass du nicht mehr in dieser Konstellation bleiben möchtest." offenbarte sie mir. Ich überlegte kurz, wie ich mich ausdrücken sollte und gab dann zurück: „Keiner von Beiden hat etwas falsch gemacht. Es liegt definitiv an mir und hat etwas mit Leni zu tun." Sie nickte und legte mir im Rausgehen offen: „Ich kann dir nichts versprechen, aber ich werde mal nachsehen, ob sich da was machen lässt und dir morgen Bescheid geben." Ich bedankte mich noch bei ihr, bevor sie um die Ecke verschwand.

Anschließend ging ich in das besagte Zimmer, in welchem sich zum Glück gerade niemand aufhielt. Ich ließ meinen Rucksack auf den Boden fallen, schmiss mich auf mein Bett und vergrub mein Gesicht im Kissen. Mein Handy begann zu vibrieren, was ich aber ignorierte, da es wahrscheinlich sowieso nur meine Mutter war. Ihre Probleme konnte ich mir nun wirklich nicht anhören. Alles woran ich denken konnte war Leni, die von Viktor geküsst worden war. Hatte ihr der Kuss gefallen? Natürlich hatte er das, was war das überhaupt für eine Frage. Ich musste aufhören darüber nachzudenken, denn schon wieder begannen mein Herz zu rasen und meine Lunge sich zuzuschnüren. Vor meinem geistigen Auge tauchte Lenis Gesichtsausdruck auf, als sie mich in der Klinik gesehen hatte. Neben Überraschung konnte ich jetzt auch Panik und Reue in ihren Augen sehen. Warum wusste ich nicht, aber das spielte jetzt auch keine Rolle. Immer wieder vibrierte mein Handy und riss mich damit aus meinen Gedanken. Doch plötzlich unterbrach etwas anderes die Stille. Die Tür wurde aufgestoßen und Finja kam hereingestürmt. „Cäcilia, Leni wird morgen früh entlassen. Sie darf zwar noch nicht in die Schule, aber sie kommt morgen zurück ins Internat." rief sie mir aus voller Begeisterung zu. Es fühlte sich wie ein Schlag in die Magengrube an. Morgen würde ich sie wiedersehen und nicht einfach wegrennen können. Doch egal wie sehr ich mich auch dagegen sträubte, erfüllte mich auch dieses warme Gefühl bei dem Gedanken, wieder in ihrer Nähe sein zu können. 

Mit dir ist es was BesonderesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt