Kapitel 58

568 19 5
                                    

Die Krankenpflegerin fragte mich erst, wie ich mich fühlte und nahm mir anschließend Blut ab. Sie meinte, dass es wichtig sei, all meine Werte permanent zu beobachten. Ich ließ alles über mich ergehen und antwortete nur knapp auf ihre Fragen. Nach den ganzen Konversationen, war ich echt erschöpft. Als sie endlich weg war, sank ich noch tiefer in mein Kissen und schlief schnell ein.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, griff ich nach meinem Handy. Ich entsperrte es und wurde von einer Welle an Mitteilungen überrollt. Ich öffnete Instagram und scrollte durch die Beiträge. Plötzlich blieb mir die Luft weg. Die App hatte mich zwar vor sensiblen Inhalten gewarnt, aber mit so etwas hätte ich nie im Leben gerechnet. Ich sah jenes Video, welches gerade um die Welt zu gehen schien. Jenes Video, in dem in den USA ein weißer Polizist, einen dunkelhäutigen Passanten auf brutalste Art und Weise ermordete. Ich hatte keine Worte für diese Grausamkeit. Diese Worte gab es nämlich nicht. Ich scrollte weiter und sah, dass viele meiner Mitschüler und andere, denen ich folgte, Informationen dazu teilten. Zwar war ich vollkommen fassungslos, aber mir war klar, dass es jetzt wichtig war, sich zu informieren. Dass so etwas heute oder überhaupt passierte, erschien mich nicht real. Aber es war realer, als ich es mir jemals vorstellen könnte. Es war die brutale, abartige Realität. Dies zu realisieren, tat unfassbar weh, aber es war wichtig. Man darf davor nicht die Augen verschließen.

Ich bekam die Benachrichtigung, dass auf dem Account des Einsteins, ein Livestream stattfand. Ich klickte auf den Button und die Verbindung wurde aufgebaut. Alle anderen schienen das Video schon vor mir gesehen zu haben, denn die Schulleitung widmete den heutigen Schultag der Aufklärung und Recherche zu diesem Thema. Das verriet zumindest der angepinnte Kommentar, ganz unten auf meinem Bildschirm. Auf dem Bild war ein Rednerpult zu sehen. Herr Chung kündigte in diesem Moment den bzw. die nächste Redner*in an. Es war Leni. Sie räusperte sich und begann zu sprechen: „Den folgenden Text zum Thema Ungerechtigkeit, habe ich vor einiger Zeit geschrieben. Er behandelt also nicht aktiv die aktuellen Ereignisse. Aber es ist nicht so, als hätte es diese Missstände nicht schon vorher gegeben. Es haben nur viel zu Wenige hingesehen. Dies ist kein Einzelfall und wir dürfen nicht so tun, als wäre dieser eine Polizist die Ursache des Problems. Er ist ein Symptom der fest in unserer Gesellschaft verankerten Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Davon handelt dieser Text. Er trägt den Namen:

Kein Unterschied

Gerechtigkeit-ein starkes Wort

Definition hin oder her

was meint man wenn man es sagt

bloß Floskel oder wichtiger Wert

nur verpackter Egoismus oder bereit sich selbst zu schaden

wenn es um die eigenen Privilegien geht

nur hier und jetzt oder immer und überall

behandle jeden Menschen gleich

ob schwarz oder weiß

arm oder reich

krank oder gesund

ob gläubig oder nicht

jeder verdient das gleiche

einen Unterschied gibt es nicht

er wird gemacht, von UNS

kein Gesetz und keine Strafe

kann Menschen dazu zwingen

nur der Verstand kann entscheiden was richtig oder falsch ist

an Gerechtigkeit denken -das Eine

gerecht zu handeln -das Schwierige

wer gibt schon gern von seinem Wohlstand ab?

so viele Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen

doch eigentlich auf gleicher Basis beruhend

nirgendwo unmöglich Gerechtigkeit durchzusetzen

mal schwieriger, mal einfacher

aber immer möglich

wie kann es also im 21. Jahrhundert sein

wo alles schon so weit entwickelt scheint
dass dieser Wert auf der Strecke bleibt

lass die Hülle jeder Ausrede fallen

wie sieht es wirklich aus?

Korruption und Vorurteile

Sexismus und Rassismus

schafft das alles ab!

sind so tief verankert

manchmal sehe ich sie gar nicht

denn egal wie empathisch man auch ist

den Schmerz, die Angst, die Wut

der Unterdrückten, wird man nie nachfühlen können

bloß ihre Stimme können wir hören

und mit ihnen gemeinsam, noch lauter sein"

Als sie fertig war, war es totenstill. Es gab nichts mehr und gleichzeitig noch unendlich viel zu sagen. Aber vor allem, gab es etwas zu machen. 

Mit dir ist es was BesonderesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt