Teil 56

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Es fiel mir an diesem Abend schwerer einzuschlafen. Zum einen, weil ich die Erinnerungen an meinen Dad und meinen Bruder, die das Eislaufen mit Levi hervorgerufen hatte, nicht aus meinem Kopf bekam und zum anderen, weil ich immer wieder an Levi denken musste. Es war seltsam aber mich erfüllte eine Melancholie, die sich eigenartig mit dem Gefühl unbändiger Freude und Dankbarkeit vermischte.

 Ich trauere um meinen Verlust und gleichzeitig dankte ich Gott, oder wem auch immer für das Glück, Levi zu haben.

 Ich wusste, dass mein Dad nicht gewollt hätte, dass ich um ihn trauerte und er hätte es schön gefunden, wie glücklich Levi mich machte und dennoch fühlte ich mich schlecht. Ich fühlte mich schuldig, weil ich so glücklich ohne ihn war. Weil ich so leicht gelernt hatte, ohne ihn und Troy zu leben.

 Diese Gedanken plagten mich stundenlang und ich wälzte mich unruhig im Bett hin und her.

 Irgendwann gegen drei Uhr gab ich es schließlich auf zu schlafen. Außerdem fiel es mir schwer in der Dunkelheit zu liegen, wo ich nichts erkennen konnte. Die Sache mit Jackson spukte immer noch etwas in meinem Kopf herum. Ich stand also auf und schaltete das Licht an. Die Fenster ließ ich verschlossen und die Jalousien unten.

 Ohne einen Plan, was ich tun sollte, begann ich wahllos Sachen aus meinen Schrank zu ziehen und schmiss alles was ich nicht mehr haben wollte auf einen Stapel. Nachdem ich meinen Kleiderschrank entmistet hatte, kümmerte ich mich um das Bücherregal neben meinem Bett.

 Ich zog CDs, Bücher und anderen Kram heraus und stopfte das Zeug in eine Tüte oder legte es auf mein Bett. Als ich damit fertig war, wollte ich die Sachen wieder feinsäuberlich dort aufstellen, sodass es auch etwas schöner aussah.

 Dabei fiel mir ein Stück Tapete auf, das von der Wand blätterte und ich beugte mich ein Stück in das Regal, um es abzumachen. Aber plötzlich knackte das Regalbrett, auf das ich mich gestützt hatte und noch bevor ich überhaupt reagieren konnte, brach es in der Mitte durch und krachte auf das Brett darunter. Und auch dieses brach.

Schützend hob ich die Arme über den Kopf, weil ich fürchtete, dass der Rest des Regals ebenfalls auf mich niederprasseln würde, aber es geschah nichts.

 Erleichtert trat ich einen Schritt zurück und betrachtete mein Werk. Das Regal war hinüber.

 Mit einem Stöhnen ließ ich mich auf den Boden sinken und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

Das war eine Katastrophe. Nie im Leben könnten wir uns einen neuen Schrank leisten.

Gerade, als ich mich dazu aufraffte, die CDs und Bücher auf dem Boden aufzustapeln und in den übrigen Regalen zu verteilen, hörte ich eine Tür knarzen.

 Sofort flackerte ein Bild von Jackson vor meinem inneren Auge auf und ich sah mich nach etwas um, dass man als Waffe verwenden konnte.

 Eine Stimme in meinem Kopf lachte über meine Paranoia.

Woher soll Jackson wissen wo du wohnst?

Aber trotzdem wurde ich die Angst nicht los und ich postierte mich direkt neben der Türe, wo ich nicht sofort ins Auge fallen würde.

 Schritte auf den Dielen zeigten mir, dass die Person näher kam und dann drückte jemand die Türklinke runter.

 Ich hatte mein Glätteisen über den Kopf gehoben, bereit es jemandem überzubraten, als die Türe aufschwang.

 Und meine Mom im Türrahmen erschien.

 Es war ein so überraschender Anblick sie auf eigenen Beinen und überhaupt zu sehen, dass das Glätteisen mit einem lauten Klappern zu Boden fiel und eine Macke im Laminat hinterließ.

 „Mom?" stieß ich ungläubig hervor.

 „Brooke? Was war das für ein Lärm?" fragte sie und ihre Stimme klang dabei rau. Ihre Haare standen immer noch kraus in alle Richtungen ab und sie sah blass aus mit ihren blutunterlaufenen Augen. Dennoch war ihr Blick klar und das war etwas, dass ich seit langem nicht mehr gesehen hatte.

 „Ich-" stammelte ich „Das Regal ist kaputtgegangen." Erklärte ich und deutete hinter mich.

 Sie folgte meinem Blick. „Oh. Dann musst du Dad sagen, wir müssen ein neues kaufen, wenn wir zurück sind."

Dad?

 Ich erstarrte.

Was sollte ich darauf antworten?

 Sie musste entweder, doch noch reichlich Alkohol im Blut haben, oder vollkommen verschlafen sein.

Oder vielleicht hatte sie auch einfach verdrängt, dass es Dad nicht mehr gab? Das er Tod war und wir jetzt auf uns alleine gestellt waren?

Ich kämpfte mit den Tränen. Meine Mom schien es gar nicht zu bemerken. Wie in Trance murmelte sie ein 'gute Nacht' und ich hörte, wie sich ihre Schritte von mir entfernten, nachdem sie die Türe hinter sich geschlossen hatte.

 Sie war am Ende. So sehr am Ende, dass sie nicht einmal mehr die Realität im Blick behielt.

 Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Mit lautem Schluchzen sank ich auf den Boden und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

Das war zu viel. Alles war zu viel.

Ich hatte das Gefühl, die Decke würde auf mich hinab sinken. Die Wände kamen auf mich zu.

 Ich wollte schreien, aber es ging nicht.

 Ich musste hier raus. Raus. An die frische Luft. Zu eng. Zu wenig Platz. Zu wenig Luft.

Mein Atem wurde flach, als ich mich mühsam hochrappelte und zur Türe taumelte. Ohne nachzudenken stolperte ich durch den Flur und zur Haustüre. Ich stieß die Wohnungstür auf und schleppte mich die Stufen im Hausflur hinunter. Erst als ich endlich frische Luft in meinen Lungen spürte, blieb ich stehen.

 Ich sah mich um. Die Straße war leer. Leer.

 Plötzlich fühlte ich mich einsam. Ich WAR einsam. Und alle hatten mich verlassen. Ich hatte nichts mehr übrig. Erst waren mir meine Dad und mein Bruder genommen worden und jetzt verlor ich meine Mom. Schleichend. Langsam.

 Und das war schlimmer. Meine Mom zu verlieren war schlimmer.

 Mein Dad und Troy hatten keine Wahl gehabt. Sie hatten mich nicht freiwillig zurückgelassen, aber meine Mom hatte eine Wahl. Und sie hatte entschieden mich im Stich zu lassen. Ihre Tochter.

 Zu einer Kugel zusammengerollt legte ich mich neben die Haustüre. Ich zitterte und weinte. Mein Herz schmerzte so sehr, dass ich schreien musste. Ich kniete mich hin und schrie in die Nacht.

Ich schrie all die Wut, all den Schmerz, all die Trauer hinaus, die sich in den vergangenen Jahren in mir angesammelt hatten.

 Ich konnte einfach nicht mehr. Die Last war zu groß geworden und alleine konnte ich sie nicht mehr tragen.

Alleine.

 Denn das war ich.

SnowwhiteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt