Prolog ✔️

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„Sieben, acht, neun, zehn..."

Stöhnend richtete ich mich wieder auf. Zehn Kniebeugen. Davor zehn Push-Ups. Und davor zehn Mal von der einen Wand zur anderen rennen, so schnell wie möglich. Und anschließend alles nochmal von vorn.

Es war mein morgendliches Ritual. Er hatte es mir befohlen. Vor vielen Jahren. Er sagte, es helfe, dass mein Körper schöner aussehe. Also war es das Erste, was ich tat, wenn ich morgens aufwachte, weil er das Licht anmachte. Ich stand auf und rannte von Wand zu Wand. Dann die Push-Ups und dann die Kniebeugen. Und das alles zwei Mal. Danach war ich meist schwer außer Atem, sodass ich einige Male tief durchatmen musste.

Und dann wartete ich. Wartete, dass irgendetwas passierte. Dass Vater kam und mir Essen brachte. Oder irgendetwas anderes.

Der Großteil meines Lebens bestand daraus: Warten.

Warten zwischen diesen grauen Wänden, die mich umgaben. Und das meist voller Angst.

Hatte ich alles richtig gemacht? War ich ein braves Mädchen gewesen? Oder hatte er irgendetwas gefunden, wofür er mich bestrafen konnte? Ich hatte Angst vor seinen Strafen. Jeden Tag. Ich machte so oft etwas falsch. Obwohl ich mich so sehr anstrengte. Ich wollte alles richtig machen, aber ich schaffte es einfach nicht. Manchmal ging ich ihm bei den Kniebeugen nicht tief genug nach unten. Manchmal rannte ich ihm nicht schnell genug. Manchmal stand ich ihm morgens zu langsam auf. Und manchmal sagte er auch einfach, dass ich ihn böse angesehen hätte, obwohl ich es den ganzen Tag tunlichst vermied, in die Richtung der Kamera zu sehen. Die Kamera, die oben im Eck meines Zimmers hing. Dadurch konnte er mich beobachten. Deshalb wusste er auch immer, wenn ich etwas falsch machte.

Er wusste immer, was ich tat. Ich konnte mich nicht vor ihm verstecken. Und wenn ich es tun würde, wenn ich mich in das Eck unter die Kamera stellen würde, sodass er mich nicht sehen konnte, dann würde ich die größten Schmerzen erleiden, die ich je erlitten hatte. Das hatte er mir oft genug erklärt. Ich hatte mich noch nie getraut, mich in dieses Eck zu bewegen. Auf dem Boden war eine Linie. Sie zeigte, bis wohin ich gehen konnte, sodass er mich sehen konnte. Und ich hielt mich an diese Linie. Ich wollte nicht erfahren, was sonst passierte.

„Du warst heute viel zu langsam", riss Lilly mich aus meinen Gedanken.

„War ich nicht!", widersprach ich, auch wenn meine Stimme nicht so überzeugend klang, wie ich es gerne gehabt hätte. Ich war nicht zu langsam gewesen. Ganz sicher nicht. Ich hatte mich extra angestrengt.

„Ich glaube, du warst zu langsam. Er wird dich bestrafen. So wie gestern."

Tränen stiegen mir in die Augen. „Ich hab mich doch so angestrengt. Ich war nicht zu langsam. Ganz sicher nicht."

Lilly hatte es sich auf meinem Bett gemütlich gemacht und sah mich ernst an, als ich mich zu ihr umdrehte. Langsam schüttelte sie den Kopf.

„Ich habe dir zugesehen. Du warst zu langsam. Ich will dich nur warnen. Er wird dich wieder bestrafen."

Mein Herz schlug schneller, während ich krampfhaft überlegte, ob sie recht hatte. Hatte sie recht? War ich zu langsam gewesen?

Doch ich kam nicht dazu, eine Antwort darauf zu finden. Denn im nächsten Augenblick hörte ich ihn. Er war auf dem Weg zu mir. Nur wenige Atemzüge später stand er vor meiner Tür und ich hörte das vertraute Geräusch des Schlüssels im Schlüsselloch.

Mit angstgeweiteten Augen und wild schlagendem Herzen starrte ich zur Tür, bevor ich mich flehend an Lilly wandte. Doch Lilly war wieder verschwunden. So wie immer. Sie hatte genauso große Angst vor ihm wie ich. Obwohl er ihr nie wehtat. Es war immer nur ich die, die er schlug. Die er fesselte. Die er quälte. Lilly tauchte meistens erst wieder auf, wenn er verschwunden war. Manchmal versuchte sie mich zu trösten. Manchmal erklärte sie mir aber auch, dass sie es gewusst hatte. Dass sie recht gehabt hatte.

So würde es heute vermutlich auch werden.

Zitternd stöhnte ich in mich hinein. Ich hätte ihre Gesellschaft jetzt wirklich gut brauchen können. Stattdessen richtete ich meinen Blick zurück zur Tür und legte wie immer gehorsam meine Hände auf den Rücken. Ich schluckte schwer, als die Tür sich schließlich öffnete.

„Du warst heute viel zu langsam, Kleine", hörte ich bereits seine Stimme, während er eintrat.

Mein Herz sank zu Boden.

Lilly hatte recht gehabt.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt