Quinn weckte mich. Laut kläffend stand sie vor meinem Bett.
Mit noch halb geschlossenen Augen tastete ich nach meinem Handy.
8:47 Uhr. Hammer.
Ich zog mir schnell eine Jeans und ein T-Shirt an und schleppte mich nach unten.
„Quinn!", ermahnte ich den kleinen Hund, damit ich die Leine an ihrem Geschirr festmachen konnte. Sie war extrem aufgeregt und hüpfte kläffend um mich herum.
Heute war der erste Arbeitstag meiner Eltern, weshalb es ziemlich still im Haus war. Draußen war wie immer schon früh morgens die Hölle los. Was machten die ganzen Leute denn morgens? Konnte man das alles nicht einfach um ein paar Stunden nach hinten verschieben?
Denn spätestens um sieben oder acht wurden die Bürgersteige hochgeklappt und es war nichts mehr los.
In der Stadt hörte man jeden Abend die Autos auf den Straßen, was irgendwie beinahe beruhigend war.
Hier fuhr nur ab und zu ein Auto vorbei und tauchte das ganze Zimmer in helles Licht. Und dann waren da natürlich auch noch die Trecker, die schon früh am Morgen durch die Gegend brausten, als ob sie es unglaublich eilig hätten.
Ich schlüpfte schnell in meine DocMartins, setzte meine Kopfhörer auf und ging dann vor die Tür. Ich hatte mich geirrt. Die Bürgersteige konnten nicht hochgeklappt werden, da sie gar nicht existierten. Warum gab es hier nichtmal Bürgersteige? Jedes Kackkaff hatte doch zumindest Wege! Aber nein, das Kaff in das meine Mutter mich verschleppte, war einfach komplett zurückgeblieben.
Also ging ich auf der Straße. Um eine halbwegs annehmbare Runde machen zu können, musste ich aus dem Dorf raus, was nicht sonderlich schwer war, da das sogenannte Dorf nur aus wenigen Häusern bestand.
Durch meine Recherchen auf Google Maps wusste ich, dass in dieser Richtung die beiden noch kleineren Dörfer lagen. Dazwischen: Felder, Wiesen, ein paar kleine Waldstücke. Alles stinklangweilig.
Quinn hingegen fand das alles extrem aufregend und zog wie wild an der Leine.
„Komm bei Fuß!", ermahnte ich sie und tatsächlich lief sie ab da brav neben mir her. Zumindest solange, bis sie ruckartig stehen blieb und gespannt auf einen Feldweg sah. Ich nahm die Kopfhörer ab. War da was?
Plötzlich brach aus dem kleinen Waldstück eine Ziege hervor. Nein, ich bildete mir das wirklich nicht ein. Das war doch tatsächlich eine verdammte Ziege!
Der dunkelbraunen Ziege folgte ein rotblondes Mädchen, das in eine viel zu große dunkelgrüne Jacke gehüllt war. Warte mal - die hatte ich doch schonmal gesehen! Das war das Mädchen, das wir auf unserer Hinfahrt gesehen hatten. Die mit dem Pony.
„Esel!", schrie sie laut und fasste die Ziege an einem roten Halsband, an dem eine kleine Glocke hing.
Wiederwillig ließ sich die Ziege von dem Mädchen auf die Straße und somit auch auf mich zuziehen. Quinn hatte sich wohl von dem ersten Schreck erholt und fing an zu bellen. Erst da bemerkte das komische Mädchen mich überhaupt.
„Oh, äh Hallo!", sagte sie leicht überrascht, aber trotzdem mit einem fröhlichen Glänzen in den hellen Augen. Die Ziege meckerte und zog nochmal am Halsband. „Lass das!", maulte sie das Tier an, und zog eine Leine aus ihrer Jackentasche. Ging dieses Mädchen wirklich mit ihrer Ziege gassi? Oh man, wo war ich hier nur gelandet.
„Hallo", meinte ich und wollte weitergehen, musste aber feststellen, dass wir beide in die gleiche Richtung gingen. Das war irgendwie peinlich.
„Bist du neu hergezogen?", fragte das Mädchen neugierig, nachdem wir eine Weile einfach still nebeneinander hergingen.
„Joa", meinte ich. Wieder unangenehme Stille.
Das Ziegenmädchen nahm das Gespräch wieder auf: „In das Haus vom alten Rasper? In Großen?"
„Wo?", fragte ich verwirrt.
Sie kicherte. Wie konnte man so früh am Morgen schon so gute Laune haben?
„Na aus Großfers. Direkt neben Fersmitt und Ostferse", erklärte sie fröhlich.
„Also ich weiß nicht wer da vorher gewohnt hat", meinte ich vielleicht ein wenig zu abweisend. Eigentlich war die Rothaarige ja nett, aber ich war mir nicht so ganz sicher was ich von ihr halten sollte. Wer lief denn bitte viel zu früh am Morgen mit einer Ziege durch die Pampa?
„Aber das ist doch das gelbe Haus in der Mitte oder?", fragte sie einfach weiter.
„Ja, das Haus ist gelb, aber woher weißt du das?"
Sie lachte laut auf: „Weißt du, hier passiert so wenig, da ist es was besonderes, wenn jemand neues einzieht und da der alte Rasper der einzige war, der sein Haus loswerden wollte, war das nicht schwer zu erraten"
Okay. Das erklärte einiges.
„Und du wohnst auch hier in der Gegend?", fragte ich sie. Irgendwie fühlte ich mich verpflichtet, das Gespräch weiterzuführen, nur damit nicht wieder diese unangenehme Stille entstand.
Stolz antwortete die Blonde: „Geboren und aufgewachsen in Mitt"
Warum war sie so stolz drauf, aus so einem Kaff zu kommen? Normalerweise wäre das doch eher etwas, dass einem peinlich sein konnte.
Die Ziege zog wieder an der Leine und riss sie dabei fast von der Straße.
„Esel!", rief sie empört und dirigierte die Ziege wieder auf die Straße.
Da musste auch ich grinsen: „Also ich weiß nicht viel von Tieren, aber das ist definitiv kein Esel"
Etwas verlegen grinsend erklärte sie: „Der heißt nur so. Wegen den großen Ohren"
„Achso", meinte ich. Irgendwie war sie lustig.
„Und du gehst gerne mit deiner Esel-Ziege spazieren? Ist das hier so ein Ding?", fragte ich sie. Ich konnte einfach nicht anders, auch wenn sich das vielleicht ein wenig hochnäsig anhörte.
Das Ziegenmädchen lief ein wenig rot an, strich sich eine kleine Strähne aus dem Gesicht, ehe sie meinte: „Nein, also Esel gehört eigentlich meinem Bruder, aber der ist heute morgen schon mit unserem Vater weg und dann wollte ich ihn nur schnell füttern, aber dann ist Esel abgehauen"
Wir gingen kurz still nebeneinander her, da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte.
„Wie heißt du eigentlich?", fragte das Ziegenmädchen und sah mir interessiert in die Augen. Also wirklich interessiert und nicht einfach nur, weil es nicht still sein sollte.
„Mila", antwortete ich „Und du?"
„Lu", stellte sie sich grinsend vor.
„Schöner Name", meinte ich „Ist das ne Abkürzung?"
Sie lachte wieder. Wie konnte man so früh am Morgen schon so viel lachen?
Sie erklärte: „Eigentlich heiße ich Mia-Luise, aber so nennt mich nur mein Vater, wenn ich scheiße gebaut hab. Ansonsten sagen eigentlich alle Lu oder Luise"
Lu, das klang schön und passte zu ihr.
„Cool", sagte ich.
„Joa", meinte sie fröhlich und kämpfte weiter mit Esel, der wohl lieber im Graben laufen wollte, als auf der Straße. Quinn lief währenddessen wie ein gut erzogener Hund neben mir her.
Luise - das passte zu ihr, irgendwie, auch wenn sich das ziemlich altmodisch anhörte.
„Und was macht man hier sonst so, wenn man nicht grade Ziegen-Esel spazieren führt?", fragte ich sie.
Sie lachte: „Also eigentlich nicht viel. Wir hängen halt meistens einfach nur ab oder helfen unseren Eltern"
Das Zweite ignorierte ich gekonnt, aber das erste hörte sich entspannt an. Abhängen konnte ich auch.
„Und mit wem kann man hier so abhängen? Ich meine, bis jetzt hab ich fast nur Rentner gesehen"
Etwas unsicher strich sie sich mit dem Ärmel eine Strähne aus dem Gesicht: „Also im Prinzip sind da nur Anni und ihr Bruder Hannes... es sei denn du willst mit meinem neunjährigen Bruder und seinen Freunden abhängen"
Puh... das konnte ja was werden. Nur drei Jugendliche im Dorf... ach was in der ganzen Umgebung! Nur drei Leute, mit denen ich was machen könnte... wenn ich mich denn mit allen verstehen würde. Diese Anni und ihren Bruder kannte ich ja nichtmal und mit Luise wusste ich auch nicht so sicher, was ich mit ihr anfangen sollte. Sie war echt nett, aber irgendwie ein wenig verrückt.
Wir unterhielten uns, bis wir im nächsten Dorf ankamen - Mitt - wie Luise mir stolz erklärte. Sie erzählte mir auch von ihrem Pony, das sie schon besaß, seit sie ein kleines Kind war und dass sie leidenschaftliche Reiterin war.
Ich erfuhr, dass Lu genau wie ich sechzehn Jahre alt war, auch wenn sie jünger wirkte und mit ihrem Großvater zusammen Pferde hielt, während ihr Vater Bauer war und Kühe hatte. Das Pony, das letztens ihre kleine Karre gezogen hatte, hieß Flicka und war praktisch genauso Teil der Familie wie Esel die Ziege.
„Ja, ich weiß das klingt albern, aber als ich vier war, fand ich den Namen Flicka voll cool", hatte sie lachend erzählt.
Ich erfuhr auch, dass sie gerade ihren Motorradführerschein nach dem zweiten Versuch endlich geschafft hatte.
Dafür erzählte ich ihr von Quinn und, dass ich aus Köln hergezogen war, woraufhin sie mitleidig meinte, dass das ja sicher eine große Umstellung für mich sein musste. Da konnte ich nichts gegen sagen.
Sie war nett, hilfsbereit und verrückt. Sie meckerte die Ziege mit dem wunderschönen Namen an und die Ziege meckerte zurück. „Wir haben eine telepathische Verbindung", verkündete sie dann stolz. Und irgendwie war es süß, wie sie in ihrer viel zu großen Jacke gegen eine dunkelbraune Esel-Ziege kämpfte.
In Mitt angekommen, blieben wir vor dem ersten Grundstück auf der linken Seite stehen. Der Hof sah alt aus und an der Holzwand zu einem großen Gebäude lag ein Haufen Mist - und damit meine ich wirklich Mist und nicht nur Gerümpel. Da lag einfach nur Scheiße. Ich roch es bis hin zur Straße.
„Ähm, na dann", meinte Lu etwas unsicher. „Na dann", wiederholte ich „Wir sehen uns bestimmt demnächst irgendwie nochmal. So viele Menschen gibts hier ja nicht"
„Ja klar", meinte sie eifrig und nickte. Sie hatte sich schon umgedreht, als sie wieder herumwirbelte und mich zum Abschied umarmte. Etwas perplex erwiderte ich die Umarmung. Sie war ein kleines Stück größer als ich.
Esel meckerte und zog Luise von mir weg.
„Tschüssi", rief sie über die Schulter und rannte der Ziege hinterher auf die große Schiebetür zu.
Oh man. Das Mädchen hatte einen Knall. Und zwar nicht zu knapp. Aber naja... es hätte schlimmer kommen können.
„Komm Quinnie", meinte ich und machte mich auf den Rückweg, der alleine viel länger dauerte, als der Hinweg, als ich mit Luise quatschen konnte.
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Von heteronormativer Hölle und einem Ziegenmädchen
Teen FictionMila hat keine Lust. Keine Lust auf schlechtes Internet. Keine Lust auf ihre Mutter und ihren Ökotrip. Keine Lust auf nervige Dorfkinder und erst recht keine Lust auf das verdammte Dreckskaff, in das ihre Mutter sie verschleppen will. Es ist wortwö...