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„Ich finde, du solltest wieder öfter was mit deinen Freunden machen, Kim", meinte meine Mutter ernst, ehe sie sich einen Löffel Suppe in den Mund schob.

Ich dagegen ließ genervt meine Hand sinken.

„Tobi war doch letztens hier und ihr hattet Spaß"

Seufzend meinte ich: „Kannst du vielleicht nicht darüber reden, als wären wir Kleinkinder, die sich zum Spielen verabredet haben?"

Mama redete unbeirrt weiter: „Der ist ein ordentlicher junger Mann geworden, das sind die anderen von deinen alten Freunden dann sicherlich auch. Die würden sich bestimmt freuen, wenn du dich mal wieder mit ihnen treffen würdest oder lade Luise öfter ein"

Ihr ewiger Auftrag schien es zu sein, mich irgendwie in die Gesellschaft zu integrieren - vergeblich.

„Ich glaub nicht, dass die noch ein Problem mit dir haben. Ihr jungen Leute seid da ja alle ein wenig anders"

Danke. Ich war also okay, weil meine ganze Generation generell „anders" war.

„Ich geh auf mein Zimmer", kündigte ich an und schob den fast noch vollen Teller von mir.

Mama seufzte: „Och Kim, ich will doch nur, dass du glücklich bist"

Jeden weiteren Kommentar verkniff ich mir. Wenn das mal so einfach wäre.

Meine Familie wollte einfach nicht begreifen, dass mir neunzig Prozent aller menschlichen Kontakte ganz einfach gestohlen bleiben konnten. Ich war kein sozialer Mensch.

Gesellschaft konnte ganz angenehm sein, im richtigen Moment, mit den richtigen Leuten, aber es war einfach sehr viel entspannter, alleine zu sein. Kein Zwang zu antworten, keine Angst davor was falsches zu sagen. Keine Angst vor blöden Kommentaren oder leichtfertigen Äußerungen, die mich viel zu schnell ärgern konnten. Bei manchen Dingen war ich einfach zu empfindlich, was mich selber wahrscheinlich am meisten störte.

Ich schlurfte in mein Zimmer und ließ mich lustlos aufs Bett fallen.

Als Kind hatte ich mir diese Gedanken nie gemacht, einfach gesagt, was ich sagen wollte, egal was andere davon hielten, aber naja... Das war wohl vorbei.

Spätestens seit meiner Zeit im Sommercamp war mein sozialer Akku einfach nur alle. Selbst auf Gespräche mit Rico hatte ich seltener Bock, einfach weil ich schon im Camp viel zu viel hatte reden müssen. Mit den ganzen Kindern, Luise, den anderen Älteren, die sich als Betreuer ausgaben und Tobi.

Okay, mit Tobi hatte ich nicht unbedingt reden müssen, der konnte auch einfach stumm neben wir sitzen und mir Gesellschaft leisten, aber trotzdem. Seit seinem kleinen Besuch hatte ich weder ihm noch sonst eine Person außerhalb meiner Familie gesehen.

Er schrieb ab und zu. Das und die Gewissheit, dass wir irgendwie Freunde waren, reichte mir vollkommen.

Lu war wiedermal unterwegs, wie so oft im Sommer. Wenn man von diesem einen sehr verwirrenden Telefonat absah, hatte ich kaum was von ihr gehört. Mit ihrem Leben wäre ich überhaupt nicht klargekommen. Ich brauchte meine Ruhe, viel Ruhe und Zeit, um mir über dumme Dinge unnötig viele Gedanken zu machen und Luise hatte meistens nichtmal Zeit für ein Glas Wasser, weil sie ständig auf dem Sprung war. Entweder auf dem Weg zu irgendwem oder ins Camp oder am arbeiten für ihre Pferde, den Hof, ihren Vater oder ihren Bruder.

Meine Mutter sollte bloß nicht erfahren, dass andere Jugendlich über sowas wie ein Leben verfügten. Sonst würde sie noch auf die Idee kommen, dass ich sowas auch brauchte.

Mein Handy vibrierte.

Im Augenwinkel sah ich, dass diverse ungeöffnete Nachrichten auf meinem Bildschirm auftauchten.

Oh man, ich sollte die echt alle mal lesen. Da war ich aber viel zu faul für.

Wieder leuchtete mein Handybildschirm auf.

Ich sah nur Luises Kontakt nach oben rutschen. Seit wann benutzte sie denn ihr Handy für was anderes als für notwendige Telefonate und Bilder von ihren Pferden? Sie schrieb sonst kaum.

Neugierig nahm ich das Gerät zur Hand.

Nur ein Satz: Du hattest recht

Das war zwar ganz nett, aber leider hatte ich keine Ahnung, wovon sie da redete. Als ich ihr das mitteilte, brauchte sie kurz, bis sie antwortete: Mit dem Ausprobieren!!!!!

Ich zog die Augenbrauen hoch. Mal ganz davon abgesehen, dass das viel zu viele Ausrufezeichen waren, hatte ich mit einer solchen Nachricht nicht gerechnet.

Nachdem sie geschlagene zwei Stunden lang nur komische absolut theoretische Szenarien dargelegt hatte, die wohl irgendwie ihre eigene Situation darstellen sollten, hatte ich gefragt, was denn wirklich los war. Die Frage hatte sie unbeantwortet gelassen und stattdessen von einer angeblichen Freundin erzählt, die sich nicht sicher war, ob sie verliebt war oder nicht, weil darum oder so und ob das okay wäre, sich zu verknallen wegen irgendwelchen Problemen.

Als ob ich dafür ein passender Ansprechpartner gewesen wäre. Wenn es einen Menschen gab, der noch weniger Ahnung von solchen Dingen hatte, als Lu, dann war das ich. Woher sollte ich denn bitte wissen, wie sich Verliebtheit anfühlte?

Schon dezent genervt hatte ich ihr gesagt, dass sie es einfach ausprobieren sollte, einfach sagen sollte was sie dachte und entweder funktionierte es oder eben nicht.

Wie auch immer schien sie meinen Rat befolgt zu haben.

Ich hoffte einfach nur, dass Lu sich nicht von irgendeinem der lokalen Dorftrottel das Herz brechen ließ. Sie wäre ein viel zu leichtes Opfer für diese Idioten, die sich das liebste Mädchen schnappten und sie dann so lange wie möglich trotz ihres dummen Verhaltens bei sich behielten, einfach weil es so am einfachsten war. Gab es hier in der Gegend viel zu oft.

Lu wäre ziemlich sicher anfällig für sowas. Jeden der nett zu ihr wäre, würde sie mit offenen Armen empfangen. Jeder, der ihr zwei Komplimente machte, war im Rennen und da selbst ich mitgeschnitten hatte, was für ein Arsch Lus Vater war, war ich mir ziemlich sicher dass sie keine hohen Ansprüche hatte. Ganz davon abgesehen war sie viel zu leicht auszunutzen.

Wer ist es?, fragte ich.

Die Antwort brachte mir nicht viel: Sag ich noch nicht.

Wow, warum hatte sie mir dann überhaupt geschrieben? Egal wer es war, ich müsste ihn sehr genau unter die Lupe nehmen. Und wenn es Hannes oder jemand der ihm ähnelte sein sollte, müsste ich mein Können unter Beweis stellen und sehr tief im Wald ein sehr tiefes Loch buddeln. Um ehrlich zu sein ahnte ich böses. Am Ende war es noch wirklich Hannes oder so. Da würde es auch passen, dass es aus irgendeinem Grund seltsam war. Immerhin war er der Bruder ihrer besten Freundin.

Da ich nun eh schon am Handy saß, sah ich mir auch die restlichen Nachrichten an.

Meine Oma hatte mir ein Katzenvideo geschickt. Ein wenig verstört sah ich ein schlecht geschnittenes, mit noch schlechterer Musik unterlegtes Filmchen an, in dem eine Katze versuchte, ein Plüschtier zu fressen.

Alte Leute sollten kein Internet haben dürfen.

Nächste Banachrichtigung: Tobi.

Ein paar Anrufe in den letzten Tagen, die ich aufgrund von fehlendem Lebenswillen verpasst hatte und zuletzt eine SMS.
Wer schrieb denn bitte noch SMS? Hatte er kein Whatsapp? Oder irgendeinen anderen Nachrichtendienst?

Willst du mit zum See? Konnte dich nicht erreichen, darum komm ich nachher vorbei.

Tolle Nachricht. Sollte die logische Schlussfolgerung auf das Ausbleiben von Antworten nicht sein, mich einfach in Ruhe zu lassen?

Bevor ich eine Antwort tippen oder auch nur zurückrufen konnte, bimmelte auch schon die die Türklingel.

Ernsthaft?

Von heteronormativer Hölle und einem Ziegenmädchen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt