„Musst du uns wirklich fahren?", fragte ich genervt und prügelte auch den letzten neuen Block in meinen Rucksack „Luise meinte, wir könnten auch mit dem Motorrad..."
„Luise hat einen gebrochenen Arm", wies meine Mutter mich skeptisch zurecht.
Hilflos versuchte ich auf das zugegebenermaßen recht gute Argument zu kontern: „Aber sie meint, dass sie trotzdem kann"
Frank sah kurz hinter seiner Zeitung hervor, öffnete den Mund, schüttelte dann aber doch nur den Kopf. Weise Entscheidung.
„Außerdem fährt Tobi eh nach Roslangen und nimmt Kim mit. Da könnten wir auch mitfahren", versuchte ich meine Mutter zu überreden. Mit sechzehn fühlte ich mich irgendwie zu erwachsen um von meiner aufgeregten Erziehungsberechtigten zum ersten Schultag gekarrt zu werden. Ich - beziehungsweise wir - kamen in die elfte Klasse und nicht in die Fünfte.
Dramatisch seufzend, bettelte sie: „Darf ich mein Kind nicht ein letztes Mal zum ersten Schultag fahren? Bald bist du erwachsen und dann werde ich traurig sein, dass..."
Ich stöhnte noch viel dramatischer: „Na gut, dann opfere ich mich deinem Bedürfnis nach besonderen Momenten"
Mein nicht mehr existenter Schlafrhythmus sagte mir, dass es zu früh für jegliche Art von Diskussion war.
Sie lächelte triumphierend.
Manipulatives...
Die Haustürklingel unterbrach meine durchaus unhöflichen Gedanken.
„Ist auf!", brüllte ich und wenige Sekunden später stand Luise neben mir und lächelte mir aufgeregt ins Gesicht: „Guten Morgen"
So früh am Morgen ließ mich das fast erblinden. Ich war zwar auch aufgeregt, aber ich kanalisierte auch nicht jegliche meiner Gefühle und unbändige Freude.
„Morgen", brummte ich und küsste sie kurz. Augenblicklich lief sie knallrot an und sah lächelnd zu Boden. Luise war wohl fest davon überzeugt, dass Zuneigung vor den Eltern unangebracht war, aber meine zumindest waren schlimmeres gewohnt... das wiederum musste Lu jetzt nicht unbedingt wissen. Aber so wie ich meine Mutter kannte, würde sie schon dafür sorgen, dass sich auch meine peinlichsten Momente in Luises Gehirn verpflanzten.
„Setz dich ruhig erstmal. Dauert noch ein bisschen, bis wir loskommen", meinte meine Mutter freundlich „Mila hat gestern ihre Sachen nicht gepackt"
Ein passiv-aggressiver Vorwurf wie er im Buche stand.
Augenverdrehend griff ich mir ein paar Stifte aus der Krimskramsschüssel auf der Anrichte und warf sie in die Tasche.
Luise setzte ihren Rucksack ab und zupfte das weiße Top zurecht. Dasselbe Top, das sie an dem Tag getragen hatte, als wir uns zum ersten Mal geküsst hatten.Dazu trug sie eine hellblaue Jeans und tatsächlich noch fast saubere weiße Sneaker. Ihre Haare fielen wie ein rotblonder Wasserfall über ihre Schultern, da sie es mit dem Gips nach wie vor keinen anständigen Zopf auf die Kette bekam. Ich hatte Gefallen daran gefunden. Um den Hals hing eine schwer aussehende Kette. Eins der Dinger, in die man kleine Bildchen einkleben konnte. Höchstwahrscheinlich klebte darin ein Bild von Flicka oder Esel. Beinahe hätte man sie für ein durchschnittliches Mitglied der Gesellschaft halten können, wenn sie nicht am einen Arm einen an den Rändern unglaublich ausgefransten Gips und und am anderen diverse blaue Flecken gehabt hätte.
„Heute im Ausgehoutfit?", fragte ich sie grinsend.
Meine Mutter stand schon fertig angezogen in der Tür: „Hör auf das arme Mädchen anzumachen und pack deine Tasche, wir müssen los!"
Ich verdrehte die Augen und warf mir meinen Rucksack über die Schulter: „Zufrieden?"
Diese Frau war eine Zumutung.
DU LIEST GERADE
Von heteronormativer Hölle und einem Ziegenmädchen
Novela JuvenilMila hat keine Lust. Keine Lust auf schlechtes Internet. Keine Lust auf ihre Mutter und ihren Ökotrip. Keine Lust auf nervige Dorfkinder und erst recht keine Lust auf das verdammte Dreckskaff, in das ihre Mutter sie verschleppen will. Es ist wortwö...