Ich gammelte mal wieder - wie viel zu oft in letzter Zeit - auf dem Sofa rum.
Meine morgendliche Runde mit Quinn hatte ich schon hinter mir, wohlgemerkt ohne Ziegen oder sonstige seltsame Tiere, die sonst absolut nichts auf einer Straße zu suchen hatten, wenn man mal von dem Reh absah, dass auf halber Strecke zwischen Großfers und Fersmitt einmal über die Fahrbahn sprang.
Meine Mutter und Frank waren schon lange bei der Arbeit und draußen war es viel zu warm, um auch nur irgendwas zu machen. Selbst im Haus schwitzte ich schon wie verrückt, trotz meiner Hotpants und der lockeren dunkelblauen Bluse. Eigentlich hatte ich mir die auf Klassenfahrt im letzten Sommer gekauft. Da waren wir in Spanien, aber irgendwie war es hier mindestens genauso warm. Die Bluse hatte dünne Träger an den Schultern und war mittlerweile leider etwas zu klein, sodass wenn ich mich leicht streckte, mein Bauch etwas hervorblitzte. Darum zog ich sie auch eigentlich nur noch Zuhause an. Aber damals musste ich sie einfach holen, auch wenn der Rest der Klasse extrem genervt war, weil ich alles aufgehalten hatte.
Ich war schon kurz davor, ein wenig wegzudösen, als es an der Tür klingelte. Ich blinzelte träge durch die Gegend, bis mein Blick auf die Uhr fiel, die Mum vor ein paar Tagen aufgehängt hatte: zwei Uhr.
War es wirklich schon so spät?! Vor Schreck fiel ich mit einem Krachen vom Sofa, rappelte mich hastig auf und rannte zum Hausflur, nur um dann ganz entspannt und langsam zur Tür zu gehen.
Da hatte ich doch wirklich beinahe Luise vergessen. Obwohl - es war echt schwer zu vergessen, wenn plötzlich ein Mädchen mit einer Ziege bei dir klingelte.
Das mit dem Umziehen wurde dann wohl auch nichts mehr. Da mussten die Dorfkinder dann halt auch einfach mal durch, aber so wie ich Luise bisher erlebt hatte, war ich trotz der Hundehaare auf der Hose noch eine echte Fashion-Königin.
Ich zog mir schnell ein paar Turnschuhe an und öffnete die Tür.
Vor mir standen zwei Mädchen. Eine davon natürlich Luise. Unverwechselbar mit ihrem langen blonden Zopf, aus dem wiedereinmal tausend Strähnen herausgerutscht waren und einem einfachen grauen Top, auf dem sich Flecken jeglicher Farbe und Konsistenz sammelten. Okay... im Prinzip war es nur ein riesiger Staubfleck an der Schulter und etwas, das nach Öl aussah am Saum, aber trotzdem: hatte sie keine sauberen Sachen oder war das hier eine neue Interpretation des Used-Looks? Die knielange, abgeschnittene Jeans war mit - wahrscheinlich Edding - bekritzelt. Ich erahnte ein nicht symmetrisches Pentagramm und ein paar Kindergartenbeleidigungen wie „Arschkopf", „Matratze", „Wattpadmary"oder „Entenvögler" und etwas, dass wohl mal ein Tier werden sollte, aber nun eher wie ein Alien aussah. Sehr kreativ. Musste man so sagen. Und sie war barfuß... warum auch immer.
Das zweite Mädchen, wahrscheinlich Anni, von der Luise mir erzählt hatte, schien ein zwei Jahre jünger als ich zu sein und trug auf ihrem Kopf ein rotes Tuch, dass sie ein wenig wie eine Piratin aussehen ließ. Darunter fielen ihr die glatten braunen Haare bis auf die Schultern und auf der spitzen Nase saß eine einfache schwarze Brille.
Das Shirt mit dem Aufdruck „Tote Hosen live 2007" hatte wohl auch schon bessere Zeiten gesehen, ebenso wie die knielange Fußballshort, auf die wahrscheinlich auch mit edding „Ferser Opfergemeinde" gekritzelt stand. Über der Schulter trug sie locker einen braunen Rucksack. Immerhin hatte sie den Anstand, Schuhe zu tragen.
„Ick hebb di secht, wir brauchen nicht nochmal klingeln", meckerte die Jüngere altklug und boxte Luise in die Seite.
„Mimimimi", maulte Luise zurück, ehe sie sich mir zuwandte: „Naja, das ist die hochwohlgeborene Annelies, die grade ihre allerbesten Plattdeutsch-Kenntnisse ausgepackt hat"
„Wer kann, der kann, aber wenn du mich nur ein mal Annelies nennst, muss ich dich leider erst häuten und anschließend verbrennen", verkündete das Piratenmädchen freundlich und streckte mir die Hand hin.
Hilfesuchend sah ich zu Luise, die Anni direkt hilfsbereit in die Seite boxte und meckerte: „Du solltest sie doch nicht gleich verstören!"
Etwas verwirrt sah ich zwischen den beiden hin und her.
„Na komm schon oder willst da Wurzeln schlagen?", fragte Anni frech und grinste breit.
So folgte ich den beiden Verrückten auf die Straße.
„Und was machen wir jetzt?", fragte ich.
Anni zuckte mit den Achseln: „Keine Ahnung, weißt du was Lu?"
„Wir könnten zum Bach", schlug sie grinsend vor.
Anni zuckte wieder mit den Achseln und ging zielstrebig auf einen sandigen Feldweg zu. Lu und ich folgten ihr etwas langsamer.
„Alter, Marie hat heute Morgen schon wieder richtig genervt", stöhnte Anni, als wir sie eingeholt hatten.
Lu fragte mitleidig: „Uh, was hat sie denn jetzt schon wieder gemacht?"
„Ist einfach schon zum Frühstück bei uns aufgetaucht und hat Hannes abgeschlabbert. Das ist wirklich ekelhaft! Ich hätt beinahe in mein Müsli gekotzt", maulte die Jüngere und machte ein erstaunlich authentisches Würggeräusch „Warum muss sich auch ausgerechnet mein Bruder die Dorfmatratze angeln?"
„Dorfmatratze?", fragte ich.
„Die hatte schon mit der halben Dorfjugend was", erklärte Lu und Anni berichtigte: „Mehr als die Hälfte"
Ich stutzte: „Ich dachte, es gibt hier nur euch drei"
„Ja, also hier in Ferse gibts auch nur uns, aber wir haben uns mit den Kükensbachern und den Fichtelshofern zu einer Dorfjugend zusammengetan. Dann sind wir schon fast fünfzig Leute und dann halt noch die kleinen", erzählte Lu stolz.
„Und wie groß sind die anderen Dörfer?", fragte ich.
Anni lachte: „Viel großer. Die haben auch mehr als eine Straße. So ungefähr dreihundert Einwohner"
„Fichtelshof hat nie im Leben dreihundert Einwohner", warf Lu kritisch ein.
„Wenn man Ecksen mit reinzählt..."
„Ecksen ist nichtmal ein zusammenhängendes Dorf!"
„Erzähl das mal den Ecksenern!"
Während die beiden sich zankten, konnte ich nur wieder an die Tatsachen denken:
Oh. Mein. Gott. In insgesamt fünf Dörfern gab es zusammengenommen nur fünfzig Jugendliche. Ach du kacke! Wie sollte ich das aushalten? Nur mit einer Verrückten und dem Ziegenmädchen!...
„Tschüssi!", rief Anni von weitem. Ich winkte den beiden anderen Mädchen von unserem Gartentor aus zu. So langsam versank die Sonne schon hinter den endlos erscheinenden Feldern und die sengende Hitze vom Nachmittag wurde zu einem angenehmen warmen Sommerabend.
„Bis dann!", rief Lu und wollte noch auf mich zulaufen, doch Anni fing ihre Hand ein und zog sie in die entgegengesetzte Richtung
„Tschau!", rief ich ihnen grinsend nach, doch die beiden waren schon um die nächste Kurve verschwunden. Warum die beiden immer rennen mussten, verstand ich echt nicht, aber an sich war es ein schöner Tag gewesen... wenn man mal davon absah, dass ich bestimmt an die hundert Mückenstiche hatte und meine Schuhe voller Sand waren.
Anni war verrückt, wirklich. Ich kannte zwar keinen einzigen der Menschen, über die die beiden geredet hatten, aber für jeden zweiten hatte Anni eine sehr verrückte Mordphantasie. Viele davon beinhalteten Müllwagen, Ziegen oder Energydrinks, was zwar irgendwie verstörend aber gleichzeitig extrem lustig war. Ihre Eltern waren Bauern oder „Landwirte", wie Anni es nannte. Als ob da ein Unterschied wäre.
Lu hatte nur grinsend ihre Kommentare dazu abgegeben. Sie war zwar auch aufgedreht und verrückt, aber tatsächlich die ruhigere von beiden.
Die beiden kamen mir tatsächlich ein wenig vor wie Schwestern. Zankten und kabbelten sich, hielten es aber für ganz selbstverständlich trotzdem beieinander zu sein. Wahrscheinlich einfach der Mangel an Möglichkeiten, denn die anderen Dörfer, von denen die beiden geredet hatten waren auch mindestens eine halbe Stunde mit dem Fahrrad weit weg. Oh man... ich dachte, ich würde sterben und zwar bald, auch wenn Lu und Anni jetzt wohl irgendwie sowas wie meine Freunde waren.
Hier würde ich definitiv niemals eine Freundin finden. Viel zu konservativ die Gegend. Allein die Tatsache, dass die Teenager sich hier „Dorfjugend" nannten, sprach für sich. Anstrengend.
Erschöpft schlüpfte ich ins Haus.
In der Küche hörte ich Mama und Frank herumwerkeln. Leise wollte ich mich an der Küchentür vorbeischleichen, doch natürlich funktionierte das nicht, weil Quinnie als sie mich sah, kläffend und schwanzwedelnd auf mich zulief. Super. Verdammte kleine Verräterin! Das Schicksal hasste mich wohl wirklich!
„Ach, sind wir auch mal wieder Zuhause?", fragte meine Mutter skeptisch und betrachtete mich von oben bis unten.
„Joa", meinte ich achselzuckend und wollte mich in mein Zimmer verziehen, doch meine Mutter hasste mich wohl fast genauso wie das Schicksal: „Und wo warst du? Wir haben uns Sorgen gemacht!"
„Unterwegs halt", sagte ich wage. Ich hatte noch immer keine Lust mir Mums „ich-hab-dir-doch-gesagt-dass-die-ganz-nett-hier-sind"-Rede anzuhören, aber so langsam kam ich wohl kaum mehr drum herum.
„Und für wie lange? Und wie siehst du überhaupt aus?", redete meine Mutter sich in Rage, während Frank mehr interessiert als vorwurfsvoll fragte: „Ist das etwa Gras in deinen Haaren?"
Schnell zupfte ich die Halme von meinem Kopf. Wusste ich doch, dass ich etwas vergessen hatte! Anni fand es nämlich sehr lustig sowohl Luise als auch mich mit losem Gras abzuwerfen. Die schien das alles allerdings kein Bisschen zu stören, sie warf nur irgendwann zurück.
Warum das Gras lose abgemäht auf dem Boden lag war auch wieder so eine Sache die ich weder verstehen konnte noch wollte. Kam abgemähtes Gras nicht eigentlich in den Müll oder so?
Unter dem strengen Blick meiner Mutter gab ich nach und erzählte, dass ich mit zwei anderen Mädchen unterwegs gewesen war.
Da war Mums Misstrauen direkt unglaublich anstrengender Freude gewichen, die mir direkt schlechte Laune machte.
Genervt ließ ich ihren ungezügelten Enthusiasmus über mich ergehen, bis sie nur noch meinte: „Sag aber nächstes Mal Bescheid, wenn du rausgehst"
„Jaja schon klar", meinte ich augenverdrehend und lief in mein Zimmer, wo ich mir das restliche Gras aus den Haaren pulte. Drecksnatur.
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Von heteronormativer Hölle und einem Ziegenmädchen
Teen FictionMila hat keine Lust. Keine Lust auf schlechtes Internet. Keine Lust auf ihre Mutter und ihren Ökotrip. Keine Lust auf nervige Dorfkinder und erst recht keine Lust auf das verdammte Dreckskaff, in das ihre Mutter sie verschleppen will. Es ist wortwö...