„Ach Mila, ist Luise schon wieder weg? Dann kannst du dich ja wieder zu uns setzen"
Super.
Da ich keinen Bock auf Streit hatte, half ich ihr auch noch, die nächste Kanne Kaffee in den Garten zu tragen und setzte mich dann wieder auf meinen in der Sonne aufgeheizten Stuhl.
„Is dat Luischen schon wieder los?", fragte Frau Lehmann verwundert in ihrem dörflichen Dialekt.
Wie war Lu denn bitte an denen vorbeigekommen, ohne bemerkt zu werden? Sie hatte doch auch durch den Garten gehen müssen. War sie neuerdings auch noch Ninja? Bei ihr wunderte mich kaum noch etwas.
„Ja, ihre Ziege ist abgehauen"
Oh man, das hörte sich einfach wie die schlimmste Ausrede dafür an, dass man zu spät zur Schule kam. Gleich nach „Mein Hund hat mein Busticket gefressen" und „Ich musste noch meine Topfpflanze bürsten".
Frau Lehmann nickte verständnisvoll, als ob sie absolut nachvollziehen konnte, was da abging.
Alter, in welchem Universum war sowas normal?
„Jaja, Luischen ist immer beschäftigt. Immer macht sie hier und da. Wenn meine Greta mal auch ein wenig so wäre..."
Oh man, es ging schon wieder los. Geschichten von Frau Lehmanns Enkeln.
Aber nein, sie überraschte mich. Tatsächlich bekam sie relativ schnell die Kurve und kam wieder auf Luise zu sprechen: „Immerhin hat sie sich auch um den alten Friedmann gekümmert, völlig freiwillig, während meine Greta selbst bei sich auf der Arbeit versucht, sich nicht um alte Menschen kümmern zu müssen, obwohl sie in einem Altenheim arbeitet. Faul ist sie, obwohl sie vor zwei Jahren Abitur gemacht hat"
Job verfehlt, würde ich behaupten.
„Was hat Luise gemacht?", fragte meine Mutter.
Frau Lehmann erzählte: „Ach, in Mitt gab es den Addi Friedmann. Ein alter Sack und ein Nazi wohl auch. Aber als es ihm dann schlechter ging hat Luischen ihm geholfen. Für ihn gekocht und Rasen gemäht und sowas. Der Sohn hat sich kein einziges Mal blicken lassen, bis sein Vater tot war. Da ist er gekommen, um das Haus zu verkaufen. Ob dat mal so richtig war, dass das Mädchen die ganze Zeit bei dem alten Mann war, weiß ich nu auch nicht, aber wer hätt se aufhalten sollen? Eine Schande, was mit ihrer Familie passiert ist"
Noch etwas über Lu, dass ich noch nicht wusste. Hobby-Altenpflegerin für Alt-Nazis, wow.
Und außerdem erlebte ich mit, wie die Leute über sie dachten. Natürlich war sie ein Engel. Das wusste jeder. Sie war freundlich, immer gut gelaunt und hilfsbereit. Und gleichzeitig hatten sie alle Mitleid mit ihr. Mich eingeschlossen. Sie hätte besseres verdient. Absolut.
Meine Mutter mit ihrem ewigen Gerechtigkeitssinn fragte skeptisch: „Was ist denn mit ihrer Familie?"
„Oh, das hast du noch nicht gehört?", Frau Lehmann schien gradezu entsetzt. Wie konnte meine Mutter es auch wagen, nach ein paar Wochen noch nicht den gesamten Dorf-Klatsch zu kennen? Eifrig erzählte sie: „Ach, die Kinder vom Grevenhof haben ja schon so früh ihre Mutter verloren und seitdem trifft man Michael nur noch in der Kneipe an. Schlimm ist das, ich hab den Mann seit Jahren nicht mehr nüchtern erlebt. Und wie das bei denen Zuhause ohne eine Frau im Haus funktionieren soll, nachdem Hannelore auch gestorben ist, frag ich mich auch. Immerhin ist Luischen langsam alt genug, um das zu übernehmen"
Ich musste mir das wütende schnauben unterdrücken. So langsam alt genug, um die Frau im Haus zu sein... dass ich nicht lache! Allein der Gedanke, dass das benötigt wurde, weil Männer ja nicht kochen oder putzen konnten war so veraltet.
Aber naja, das zeigte mal wieder, wie zurückgeblieben dieses Dorf in seiner Entwicklung war. Die waren Wertetechnisch einfach vor fünfzig Jahren stehengeblieben.
Außerdem war Luise 16! Das war definitiv nicht das Alter, in dem man sich über einen eigenen Haushalt Gedanken machen sollte. Für mich war es schon eine Glanzleistung, wenn ich mal einen Staubsauger in die Hand nahm oder die Spülmaschine einräumte und Frau Lehmann befand, dass Lu Alt genug wäre, um „Die Frau im Haus" zu sein.
„Oh, die arme Luise, das wusste ich ja noch garnicht", meinte meine Mutter mitleidig.
Ja, die arme Luise.
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Von heteronormativer Hölle und einem Ziegenmädchen
Teen FictionMila hat keine Lust. Keine Lust auf schlechtes Internet. Keine Lust auf ihre Mutter und ihren Ökotrip. Keine Lust auf nervige Dorfkinder und erst recht keine Lust auf das verdammte Dreckskaff, in das ihre Mutter sie verschleppen will. Es ist wortwö...