Während Manu los war, um sich fertigzumachen, hockte ich mich auf das gemütliche Sofa. Der Schoko-Eisfleck, den ich auf wirklich dumme Weise während eines Filmabends fabriziert hatte, ging schon seit Jahren nichtmehr raus, auch wenn Manus Mutter, so wie ich sie kannte, alle paar Tage aufs Neue versuchte, ihn zu entfernen.
Sie war schon immer etwas ordentlicher als meine Mutter gewesen. Bei ihr war alles geputzt, die Möbel aufeinander abgestimmt, nirgendwo stand was rum. Währenddessen hatten wir es in Ferse auch nach Wochen noch nicht geschafft alle Kartons auszuräumen und irgendwo lag immer ein verirrter Schlüssel oder eine Jacke rum.
Lu ließ sich ächzend neben mich fallen und schielte mich von der Seite an.
„Was?", fragte ich grinsend.
Sie zuckte mit den Achseln: „Wenn du in Gedanken bist, ziehst du immer eine Augenbraue hoch"
Dass ihr sowas überhaupt auffiel. War es mir aufgefallen? Irgendwem sonst?
Ich schnaubte: „Garnicht"
Damit ließ ich mich zur Seite kippen und fiel mit dem Kopf auf ihren Schoß. Schon angenehmer.
Wirklich süß lächelnd strich Luise mir durch die Haare.
Müde schloss ich die Augen und genoss das Gefühl ihrer Finger auf meiner Kopfhaut, das leichte Ziepen, wenn sie in einer Strähne hängen blieb. Als sie in ein leichtes Kraulen überging, brummte ich wohlig.
So könnte es bleiben. Möglichst für immer.
Aber da ich ja schon festgestellt hatte, dass das Universum mir sowas in keinster Weise gönnte, knackte nach wenigen Augenblicken das Schloss der Wohnungstür.
Genervt richtete ich mich wieder auf.
Luise sah mich fragend an.
„Manus Mum", meinte ich.
Samstags Morgen hatte sie immer Yoga. Seit Jahren schon.
Kurz nachdem die Wohnungstür ins Schloss gefallen war, kam sie mit einer Yogamatte unterm Arm ins Wohnzimmer marschiert und begrüßte uns fröhlich. Aus irgendeinem Grund war Clara Steiner ein Morgenmensch.
So ziemlich der einzige den ich kannte... wenn man vielleicht von Lu absah, aber die war vermutlich einfach ein alles-Mensch. Sie brauchte keine bestimmte Tageszeit für gute Laune, sie konnte das einfach immer.
Bei jedem anderen Menschen hätte mich das wohl endzeitlich genervt, aber bei ihr war es faszinierend.
„Na, habt ihr schon gefrühstückt?", fragte Clara, während sie die Matte in einem der vielen Schränke verstaute.
Ich nickte: „Ja, grade eben. Manu macht sich grade fertig"
Sie schnaubte: „Na, dann kann das ja noch dauern, bis ich ins Bad kann. Was habt ihr denn noch vor heute?"
„Wir wollten ins Jugendzentrum und dann mal gucken", erklärte ich achselzuckend.
Das war für Clara wohl in Ordnung und sie verzog sich in ihr Schlafzimmer.
Kaum war sie aus dem Zimmer, ließ ich mich gegen Lu fallen. Am liebsten hätte ich mich an ihren Rücken getackert, um möglichst oft bei ihr sein zu können.
Lu schien es nicht anders zu gehen, denn sie schloss direkt ihre Arme um meinen Bauch und drückte mich an sich.
Als sie redete, konnte ich ihr breites Grinsen förmlich hören: „Ich glaub, ich lass dich einfach nichtmehr los"
Ich lachte leise und legte meinen Kopf nach hinten auf ihre Schulter: „Find ich gut"
Entschlossen verschränkte ich meine Finger mit Luises und streichelte leicht mit dem Daumen über ihre Hand.
Als ich eine kleine Narbe ertastete, fragte ich mit halb geschlossenen Augen: „Woher hast du die?"
„Was?", fragte Luise leise.
Ich strich wieder über die kleine Unebenheit: „Das"
Sie kicherte: „Da haben Ben und ich zusammen versucht im Ziegenstall eine Maus zu fangen. Ich hab hinter so eine Kiste gegriffen und die Maus hing auf einmal an meiner Hand. In dem Moment tat das garnicht so sehr weh, aber geblutet hat es danach wie sau"
„Ihr Dorfmenschen spinnt alle", bemerkte ich und strich über die Narbe. Solche Geschichten bekam man in Köln eher seltener zu hören... vielleicht auch, weil die meisten Menschen hier keine Ziegen hielten... verständlicherweise.
Sanft fuhr ich weiter über ihre Hände, die nach wie vor auf meinem Bauch lagen. Überall ein wenig fester als meine, fast schon wie Hornhaut.
Als ich wieder auf eine Narbe stieß, erklärte Lu: „Anni und ich haben versucht freihändig einen Maiskolben zu schneiden"
Skeptisch fragte ich: „Und wie bekommt man davon Narben am Mittelfinger?"
Ihr Atem strich durch meine Haare, als sie lachte: „Anni hatte zum Geburtstag von Hannes ein Taschenmesser geschenkt bekommen - natürlich heimlich. Ihre Mutter hätte ihr das niemals erlaubt. Wir waren im Sommercamp und sie wollte es dann natürlich an allem Möglichen ausprobieren und das erste was uns in die Finger kam, war eben ein Maiskolben. Ich hab den dann festgehalten und sie wollte schneiden, aber dann ist sie irgendwie abgerutscht. Wir hatten totale Angst, dass wir Ärger von den Betreuern bekommen"
„Und dann?", fragte ich leise.
„Dann haben wir erst versucht das selbst zu verbinden mit Opas altem Autoverbandskasten, den er mir irgendwann mal geschenkt hatte, aber als Anni beim Verbinden fast umgekippt ist, sind wir zu Hannes gelaufen. Wir dachten, dass das eine kluge Idee wäre, weil er ja älter war, aber auch nicht wirklich erwachsen. Aber er war grade am Fußball spielen mit der ganzen Bagage. Tobi, Anton, Kim, Hinnerk und so weiter. Irgendwie standen die dann alle um uns rum und haben sich sehr begeistert meine blutende Hand angeschaut. Das war eine wirklich sehr sehr seltsame Geschichte"
Ich lachte: „Wie alt ward ihr da bitte?"
Sie überlegte kurz: „Ich war elf - glaube ich - und Anni müsste dann grade neun geworden sein"
„Und die anderen?", fragte ich.
„Hannes und Anton so Dreizehn, Kim ist ein Jahr älter als ich und Tobi und Hinnerk vielleicht vierzehn oder fünfzehn"
Okay, das konnte ich mir vorstellen. Anni und Luise vollkommen hilflos auf der Suche nach jemandem, der einen Verband anlegen konnte und Hannes starrte das Ganze nur an wie ein Auto, während Lu langsam verblutete.„Und wer hat dir dann schließlich den Verband rangemacht?", fragte ich.
„Tobi hat es versucht, aber da hat uns schon eine Betreuerin bemerkt. Am Ende haben wir die ganze Geschichte so gedreht, dass Anni und ich ein Loch gebuddelt haben und ich in eine Scherbe gefasst habe. Beziehungsweise haben die Jungs sich das alles ausgedacht, weil Hannes keinen Ärger bekommen wollte, weil er seiner neunjährigen Schwester ein Messer gegeben hatte"
Lachend meinte ich: „Es ist ein Wunder, dass ihr alle eure Kindheit überlebt habt"
Meine Mutter war mit mir auf den Spielplatz gegangen und hatte mir gesagt, dass ich aufpassen sollte, dass ich nirgendwo runterfiel und Lu und Anni waren mit Messern durch Maisfelder gerannt. Hörte sich vollkommen normal an - nicht.
Ich kuschelte mich enger an sie und verrenkte meinen Hals kurz, um ihr einen kleinen Kuss auf die Wange geben zu können.
Sie schenkte mir ihr breitestes Lächeln und lehnte ihrem Kopf an meinen.Beide schlossen wir für einen Moment die Ruhe, bis wir (wiedermal) gestört wurden.
Manu grinste: „Aha, und das nennt ihr also ‚nichts'"
DU LIEST GERADE
Von heteronormativer Hölle und einem Ziegenmädchen
Teen FictionMila hat keine Lust. Keine Lust auf schlechtes Internet. Keine Lust auf ihre Mutter und ihren Ökotrip. Keine Lust auf nervige Dorfkinder und erst recht keine Lust auf das verdammte Dreckskaff, in das ihre Mutter sie verschleppen will. Es ist wortwö...