12

436 27 0
                                    

Ich grummelte und drückte meinen Kopf tiefer ins Kissen. Warum mussten diese blöden Vögel nochmal so laut sein? Blöde Hurenkinder! Das machten die doch mit Absicht.
Müde wollte ich zu Luise rüberblinzeln, musste aber feststellen, dass der Platz neben mir leer war.
Dafür lag auf dem sowieso schon hoffnungslos überladenen Nachttisch ein Zettel, auf dem in verschnörkelter Schreibschrift stand: Lass dir Zeit, bin nur kurz füttern.
Dahinter ein kleiner Smiley.
Ich lächelte.
Ihre Schrift gefiel mir. Einerseits fragte ich mich, wer auf dieser gottlosen Welt bitteschön nochSchreibschrift verwendete, außer ein paar Drittklässlern und Omas, aber andererseits beschrieb das Lu auch ganz gut: Ne Mischung aus Drittklässlerin und Oma.
Ach Quatsch, die Schrift war einfach was besonderes und gefiel mir. Ich gabs ja zu.
Wenn ich es mir so recht überlegte, gefiel mir ziemlich viel an Lu.
Ihre verrückte Art, ihre langen, hellen Haare, die ihr immer ins Gesicht fielen und aus dem Zopf rutschten, ihre vor Freude leuchtenden Augen, die Stupsnase, ihr lautes Lachen, wenn sie durch Ferse hüpfte und ihre Stimme, wenn sie begeistert über ihre Pferde redete, ganz genau wissend, dass weder ich noch Anni ihr folgen konnten...
Okay, OKAY, DAS REICHTE. Ich sollte echt aufhören so zu denken (vielleicht sollte ich einfach mit dem Denken generell aufhören), vor allem sollte ich aufhören rumzuschnulzen oder mich wahlweise einfach vergraben.
Das wurde so langsam echt peinlich. Und damit meinte ich: Extremst Maximal Oberpeinlich.
Lu war absolut nicht mein Typ. Ich stand auf Bad Girls, Mädchen die kifften und mehr soffen als ich und garantiert nicht auf blonde Pferde-Ziegen-Dorfmädchen. Auch wenn sie noch so süß lächelten!
Mal ganz abgesehen davon, dass sie stockhetero war. Oder?
Hatte sie jemals über Jungs geredet? Wir hatten schon über so viel geredet. Anni redete manchmal von irgendwelchen Jungs, aber Lu? Wahrscheinlich war sie dahingehend einfach schüchtern.
Aaaaalter! Ich sollte mich echt einfach vergraben gehen. Lu hätte bestimmt ne Schaufel oder so für mich.
Ich schnaubte laut und ließ mich wieder nach hinten in die Kissen fallen.
Ich sollte wirklich aufhören, so über sie zu denken. Mein beklopptes Hirn spielte sich nur irgendwas vor, weil sonst keine anderen Menschen hier in der Gegend waren und mein hormongesteuerter Teeniekopf war davon überzeugt, in irgendwas oder wen verliebt sein zu müssen. Peinlich Mila, einfach nur peinlich.
Aber was lief da eigentlich ab? Sich in eine Hete zu verlieben endete nie gut und außerdem wollte ich unsere Freundschaft auch einfach nicht in Gefahr bringen.
Bevor ich mich weiter in meinen Gedankenmus reinreiten konnte, hörte ich die alte Treppe knarren.
Und dann stand auch schon Lu im Türrahmen.
„Na, auch mal wach?"
Sie grinste frech.
„Die Frage ist, warum du schon wach bist", murrte ich, ohne mich aufzurichten. Warum konnte ich nicht einfach liegen bleiben? Warum konnten die Menschen hier nicht einfach einen normalen Schlafrhythmus haben?
„Ich musste füttern", erklärte sie gut gelaunt.
„Wie spät ist es?"
„Halb neun"
Ich stöhnte und schloss die Augen wieder.
Erst von Anni in aller Früh aus dem Haus gezerrt werden und jetzt auch um halb neun aus dem Bett geschmissen. Von Vögeln und einem Ziegenmädchen. Warum hasste mich das Universum so?
Immerhin war das Bett gemütlich... und die Gesellschaft war, naja... nett.
Luise lachte: „Komm schon Schlafmütze, gestern war ich noch viel früher wach"
„Du bist ein Alien", stellte ich fest, setzte mich aber trotzdem auf.
„Aber ein Alien mit Frühstück", gab sie zu bedenken.
Sie kam auf mich zu, zog mich ächzend an den Händen auf die Beine und schleppte mich in die Küche.
Sie drückte mich auf einen Stuhl und kramte aus einem kleinen Schrank ein Paket Butter und zwei Brettchen heraus. Warum zum Teufel bewahrte man Essen und Besteck im selben Fach auf? Das war total... okay Mila, Ruhe. Positiv denken. Immerhin hatte Luise Nutella.
Während wir frühstückten, fragte ich: „Wo ist eigentlich dein Bruder?"
Ich hatte eigentlich fest damit gerechnet, dass der hier auch irgendwo rumtobte.
„Der war schon weg, als ich aufgestanden bin. Wahrscheinlich hilft der beim Melken oder er treibt sich wieder bei Mayers auf dem Eckhof rum", meinte Lu achselzuckend.
„Warum sollte er das machen?"
Sie lachte: „Weil das die einzigen sind, die ihn so früh reinlassen. Und er mag die Ziegen"
Und dann erzählte sie noch alles mögliche: Dass Ben immer mit dem Sohn vom Eckhof spielte, dass die ihn eh schon halb adoptiert hätten und was nicht noch alles.
Sie schien sich kein bisschen komisch zu fühlen.
Ich dagegen... naja war immernoch verwirrt.
Sie ist hetero, sie ist hetero, sie ist hetero, versuchte ich mir irgendwie die Realität ins Hirn zu hämmern.
Ja, sie war süß und lieb und ja, sie war auch schön, aber verdammt nochmal hetero... auch wenn ihre Fingernägel immer verdächtig kurz waren...
„Hey, hörst du mir eigentlich zu oder pennst du noch?", fragte Lu und schnippte vor meinem Gesicht rum.
„Hm?"
Lu lachte ihr fröhliches Lachen: „Du bist echt eine Schlafmütze, weißt du das?"
„Sorry"
„Alles gut, ich weiß ja, dass ich nur scheiße laber", meinte sie schief grinsend.
Um zurück zur ewig andauernden Frage zu kommen: Wie konnte man SO früh am Morgen SO gute Laune haben?
Bevor ich etwas erwidern konnte, hörte ich es auf der Holztreppe trampeln. Erst dachte ich an Ben, doch da stieß Anni auch schon die Tür auf und rief: „Guten Mooorgeeeen"
„Moin Meister", schmatzte Lu mit ihrem Nutellatoast im Mund.
Wie selbstverständlich nahm Anni sich noch ein Brettchen aus dem Schrank und steckte sich ein Toast rein, ehe sie sich zu uns setzte.
Erst da wunderte sie sich: „Was machst du denn schon so früh hier?"
Reaktionen vom Feinsten, konnte man da nur sagen.
Die Erklärung kommentierte sie nur mit einem laschen „Achso"
Ich fragte mich, ob es hier normal war einfach spontan bei jemandem anders zu übernachten oder ob es hier ähnlich war, wie in der Stadt. Meine Mutter wollte immer ganz genau wissen, wer zu besuch war oder mit wem ich wo war.
Bei Lu war das jetzt kein Problem gewesen, da meine Mutter sie als „anständig" befunden hatte, aber bei meinen Freunden in der Stadt hatte sie immer so getan, als ob ich vorhatte, ein halbes Jahr bei einer syrischen Terrorgruppe zu verbringen.
„Hast du Bock?", fragte Anni Lu dann unvermittelt, als sie ihr Toast aufgegessen hatte.
Lu fing direkt an wie eine Verrückte zu grinsen: „Ja klar, wird bestimmt mega geil dieses Jahr"
„Was wird mega geil?", fragte ich.
Lu schnaubte: „Na das Sommercamp natürlich! Das haben wir dir doch bestimmt schon erzählt"
Ich sah immernoch mehr als verwirrt zwischen den beiden hin und her. Was für ein Sommercamp denn jetzt? War das nicht eigentlich so ein Ding für kleine Kinder, wenn die Eltern sie über den Sommer loswerden wollten?
„Das machen die Dorfjugend und die Jugendfeuerwehr hier jedes Jahr. Immer in den drei letzten Wochen der Sommerferien campen wir auf der Wiese zwischen Ferse und Fichtelshof und hängen da halt so ein bisschen ab", erklärte Anni fachmännisch.
„Ganze drei Wochen?", fragte ich erschrocken. Eine Nacht im Zelt, nagut, aber gab es wirklich Menschen, die drei Wochen lang freiwillig draußen übernachteten? Schließlich hatte die Menschheit nicht gelernt Häuser zu bauen, um sich vor dem Draußen zu schützen, nur damit alle eben dort schliefen!
Oh man, wiedermal fragte ich mich, wo ich hier gelandet war.
„Ja, also wir sind nicht alle 24/7 da. Das machen eigentlich nur die Kleinen, aber die meisten kommen Abends zum Feiern vorbei. Dann ist immer was los und es macht auch echt Spaß", meinte Lu „Vor allem, weil Anni jetzt endlich auch trinken darf. Sonst musste ich immer nur mit Hannes"
Ich stutzte: „Anni wie alt bist du nochmal?"
„Vierzehn", war die fröhliche Antwort.
Ich schmunzelte: „Fight me, aber ist Alk nicht eigentlich ab Sechzehn?"
Nicht so, dass ich vor meinem Geburtstag noch nie was getrunken hatte, aber dass man mit vierzehn trinken „durfte" war mir neu.
„Ich bin konfirmiert", informierte Anni mich.
„Ja schön, aber das hat ja nichts damit zu tun", meinte ich verwirrt.
Als ob es das Normalste auf der Welt wäre, sagte Anni: „Wenn man konfirmiert ist, darf man trinken. Das ist doch in der Stadt bestimmt genauso"
„Ich bin nichtmal gläubig und die meisten die ich kenne sinds auch nicht", meinte ich achselzuckend. Den Zusammenhang zwischen Kirche und Alkoholismus hatte ich jetzt noch nicht ganz verstanden, aaaber okaaay.
„Aber du bist doch konfirmiert, oder?", fragte Anni ungläubig. Ich schüttelte den Kopf: „Warum denn, wenn ich eh nicht an irgendeinen Gott glaube?"
Anni starrte mich an wie ein Alien. Ihr hatte es wohl die Sprache verschlagen.
Lu war wohl nicht ganz so geschockt: „Wir sind jetzt auch nicht krass gläubig oder so, aber hier macht das halt jeder. Das gehört irgendwie einfach dazu. Dann ist man sozusagen erwachsen"
„Ihr Dorfmenschen seid komisch"

Von heteronormativer Hölle und einem Ziegenmädchen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt