Ein wenig abseits vom Hauptgeschehen setzten wir uns auf den Boden.
Dass meine Hose dabei nass wurde, nahm ich nur am Rande wahr.
Lu fiel mehr, als dass sie sich setzte, schielte mich dann aber trotzdem grinsend an. Dieses Mädchen...
Manu wackelte anzüglich mit den Augenbrauen.
Arschloch.
„Ich fang an", bölkte Hannes wie ein Siebenjähriger mit ADHS „Tobi, sag Stopp"
Hannes schloss angestrengt die Augen, bis Tobi „Stopp, du Opfer" sagte, und rief dann: „Pflicht!"
„Steig in irgendein Zelt und tu so als würdest du denken, dass es deins ist"
„Ernst jetzt? Ich soll zu einem Kind ins Zelt?"
„Das ist echt dumm", stimmte ich zu.
Hannes schnaubte: „Sind auch schon welche von uns im Bett, man"
Wankend richtete der Dunkelhaarige sich auf und lief relativ schlangenlinig weg.
Lu fragte: „Warten wir auf ihn?"
„Ne, wer weiß, ob er dann nicht wirklich bei irgendwem im Zelt einpennt", meinte der Blonde mit dem außerordentlich beschränkten Namen Hinnerk. Ich meine, wer nannte denn bitte so sein Kind?
Lu zuckte mit den Achseln und legte ihren Kopf auf meine Schulter.
Miss Techno Titten, die es sich neben Hannes gemütlich gemacht hatte, richtete ihre Frage an Manu, der dank irgendeines unfairen Schicksalsweg nur Wahrheit bekommen hatte: „Wer ist hier in der Runde am attraktivsten?"
Manu zog scharf Luft ein und kippte den letzten Schluck seines Getränks runter: „Wie soll das denn gehen, ich seh mache von euch doppelt und manche garnich!"
Na super. Ob high oder besoffen, Manu redete nur Scheiß, wenn er nicht wirklich zu hundert Prozent nüchtern war, was hier definitiv nicht der Fall war.
„Also, ganz objektiv jetz, ohne Scheiß so nach dem heutigen Schon - Schönheidsi - ideal, muss man sagen, dass du" er zeigte auf den leeren Fleck neben Marie „Echt geile Titten hast, aber dafür ist dein Arsch höchstens ne fünf. Da ist sogar der von Mila besser, aber die ganzen Kerle hier haben auch alle so eine Ausstrahlung wie in so nem Mittelalterfilm..."
Ich schaltete ab, während mein bester Freund einen Vortrag über Ästhetik, Männer- und Frauenkörper und Schönheitsideale hielt. Das konnte er gut, allerdings hörte er sich bekifft durchaus gebildeter an, als besoffen. Aber wenn er auf dem Dorf so geredet hätte, wie ein Dichter der Renaissance auf Koks, hätten die ihn erst recht nicht verstanden.
Luise kicherte leise und flüsterte: „Und ich dachte, ich wär voll"
Ich unterdrückte ein Lachen: „Solltest ihn mal bekifft erleben"
„...also was ich sagen will, is, dass Attraktivität wie wir sie empfinden ne individuelle Sache ist, auch wenns natürlich ne bolo... biologsche Kompon - kmponenete gibt. Aber falls ich hier jemanden ficken müsste, wärtst wohl du", beendete Manu seinen Vortrag und zeigte auf die Braunhaarige Freundin von Marie.
Etwas erschlagen schauten alle Spieler sich an, bis Manu meinte: „Mila meine allerbeste Freundin"
„Ich hasse dich", stellte ich düster klar.
Unbeirrt fing Manu an im Kopf zu zählen und als ich das Zeichen gab, meinte er glücklich: „Actiooon"
Lu jubelte leise: „Stocki Stirni!"
Was zum Fi...
„Ja! Stocki Stirni", feuerten jetzt noch mehr Menschen. Konnte mir mal irgendwer erklären, was das zu bedeuten hatte?
„Kein Plan was das ist, aber ja", meinte Manu.
Luise war schon wieder aufgesprungen und erklärte: „Also wir machen ein Wettrennen, aber vorher nehmen wir uns alle nen Stock, gehen da mit dem Kopf drauf und drehen uns zehn mal um den rum in Kreis"
Alter... konnte man mich nicht einfach standesgemäß erschießen?
Um es kurz zu sagen: Das Spiel war noch bescheuerter, als ich gedacht hatte. Nach zwei Metern drehte die Welt sich nicht mehr um mich, sondern mein Magen sich in meinem Bauch und ich kippte schräg ins Gras.
Bock aufzustehen hatte ich allerdings auch nicht, also rollte ich mich zusammen und wäre wohl auch liegen geblieben, wenn Manu und Luise mich nicht zurück zu unserem Sitzkreis gezogen hätten.
Von den nächsten paar Runden bekam ich kaum was mit und lehnte mich nur an Lu, die stützend einen Arm um meine Hüfte geschlungen hatte.
Ihre inzwischen vollkommen verklebten Haare hingen mir vor dem Gesicht und kitzelten mich an der Nase. Wie kam es eigentlich, dass ich nichtmal halb so viel getrunken hatte, wie sie und ich es trotzdem war, die hier festgehalten werden musste? Naja, angenehm war es jedenfalls.
Ihre warme Hand auf meiner kalten Haut, das ruhige Auf und Ab ihres Brustkorbs und ab und zu der Klang ihrer inzwischen etwas heiseren Stimme.
Erst als Tobi wieder zu uns stieß, ruhiger und vor allem nüchterner als vorher, hatten mein Magen und ich uns wieder einigermaßen von dem Trauma erholt.
Hannes war dran und wählte Manu und so weit ich es mitbekam, war zum ersten mal das „K" dran. Küssen.
„Machen wir mit Flasche?", fragte Anton in die Runde.
Lu gab die Gegenfrage: „Kannst du dich denn so schnell drehen?"
Ein paar kleine Lacher, und ein „Ernst-jetzt"-Blick von Anton später, wurde eine leere Bierflasche in der Mitte angestoßen.
Als sie langsamer wurde, schwankte sie bedrohlich langsam auf mich zu. Scheiße, alles nur das nicht. Ich wollte nicht Manu küssen müssen! Ich wusste, was er damit schon alles gemacht hatte und vor allem, wie viel Sand er als Kind gegessen hatte. Bah. Abstoßend.
Zum Glück rutschte der Flaschenhals grad noch so an mir vorbei und blieb schließlich bei Lu stehen.
Okay, auf einmal wusste ich nichtmehr, ob ich mich vielleicht hätte opfern sollen. Also nichts gegen Manu, aber küssen wollte man so rein menschlich eher weniger.
Mit großen Augen starrte sie in die Runde und schüttelte hektisch den Kopf.
„Ach komm, sein nicht son Spießer!", forderte Marie und schleckte Hannes über die Wange. Würg.
„Muss das sein?", piepste Luise nervös.
Die beiden anderen Mädchen gackerten laut los und schnatterten auf die Rothaarige ein. Auch Hannes schien nun, da er merkte, dass es Luise unangenehm war, noch mehr Gefallen an dem blöden Spiel gefunden zu haben und rief: „Komm schon Lulu, stell dich nicht so an"
Nur Tobi murrte, während er sich eine Fluppe anzündete: „Lass sie doch, wenn sie nicht will"
Unzufrieden und hilfesuchend sah Lu sich um. Einerseits, naja es war Wahrheit oder Pflicht, ein Kuss war jetzt nicht die Welt, vor allem mit so viel intus und so abstoßend war Manu jetzt auch nicht, aber sie als Frau sollte schon das Recht haben nein zu sagen.
„Bitte!", flehte Luise Hannes an.
Tobi zog an seiner Kippe: „Komm schon Hannes, such dir einfach jemand anderen"
„Das ist der Sinn des Spiels!", keifte Marie „Und wenn die heilige Luise sich zu fein dafür ist, soll sie sich verpissen"
Luise funkelte das andere Mädchen trotzig an.
„Jetzt guck nicht so. Bist ja eh schon besoffen, aber das liegt bei dir ja in der Familie...-" „...-Red nich so mit ihr", unterbrach Hannes seine Freundin überraschenderweise.
Als hätte man ihr ne Lammkeule in die Schulter gerammt, riss sie den Mund auf.
Die Madame war Widerworte wohl nicht gewohnt. Das kam wohl davon. Viel Titten, wenig Hirn und Empathie.
Luise neben mir taxierte Marie mit einem Blick, der selbst ihr das Hirn wegschmelzen sollte... oder was auch immer sich sonst hinter ihrer Schädeldecke befand.
Ihr Mund hatte sich zu einem schmalen Strich verzogen und ihre Hände waren zu Fäusten geballt.
„Hey, beruhigt euch alle Mal. Das ist nur ein scheiss Spiel", intervenierte Anton mit erhobenen Händen.
Mit einem angepissten: „Du bist mein Freund. Du musst auf meiner Seite sein" stand Marie auf und marschierte so schnell von dannen, dass nichtmal ihre Braunhaarige Freundin ihr folgen konnte.
„Marie, warte", meinte Hannes noch und torkelte ihr hinterher.
Das Braunhaarige Mädchen zickte: „Siehst du was du anrichtest. Ihr Ferser spinnt sowieso alle. Kein Wunder, dass hier alle wegsterben"
In einem Tempo, das ich Luise in dem Zustand garantiert niemals zugetraut hätte, sprang sie auf und starrte ihr bedrohlich ins Gesicht. Nur wenige Zentimeter trennten die beiden voneinander.
Ich befürchtete schon, dass Luise sie schlagen würde (was ich auch definitiv unterstützen würde, immerhin hatte die blöde Kuh das mehr als verdient), aber schließlich wirbelte die Rothaarige nur herum und stapfte davon.
Zum zweiten Mal an einem Abend.
Schnell rannte ich hinter ihr her quer durch das Zeltlager, bis sie schließlich beim Wasserwagen stehen blieb.
Mit immer noch geballten Fäusten drehte sie sich zu mir um: „Und was willst du mir noch sagen? Anscheinend ist heute son Tag dafür!"
Verzweifelt griff sie sich in die Haare und hielt sie an ihrem Hinterkopf fest, nur um dann hektisch eine Träne wegzublinzeln.
Wortlos ging ich auf sie zu und schloss meine Arme fest um ihren Hals: „Ich sag garnichts. Marie ist ne Schlampe"
Ein Glucksen drang an mein Ohr. Dann drückte Lu mich fest und murmelte: „Danke"
Eine dunkle Gestalt kam auf uns zugehastet. Manu.
„Hey, alles klar bei euch?", fragte er wohl mehr Luise als mich.
Lu nickte stumm und klammerte sich mit einer Hand weiterhin an meiner fest.
Ich sollte wieder mein Mantra aufsagen: Hetero, hetero, hetero...
„Ist voll in Ordnung, wenn du jemanden nicht küssen willst. Ist dein Recht auch bei nem Spiel", meinte Manu, auch wenn ich glaubte, dass es seine Ehre etwas angekratzt hatte. Es gab wenig Mädchen, die sich komplett weigerten auch nur irgendwie in Kontakt mit ihm zu kommen.
„Ist nichts persönliches, aber ich will meinen ersten Kuss halt nicht restbesoffen mit nem Halbfremden beim PWKAction haben", meinte Luise beinahe schon entschuldigend. Irgendwie war es mutig von ihr, einfach zu sagen, dass sie mit sechzehn noch ungeküsst war. Das war ja doch irgendwie ungewöhnlich.
Wie so oft dachte Manu zumindest ungefähr dasselbe: „Du hast echt noch nie jemanden geküsst?"
Lu dachte kurz nach und meinte dann achselzuckend: „In der dritten hab ich mal Anton wegen einer Mutprobe einen Schmatzer gegeben, aber das zählt nicht denk ich mal"
„Ne, nicht wirklich", meinte Manu grinsend.
Luise schenkte ihm ein kleines Lächeln.
„Na dann. Ich geh mal zurück. Tobi und Anton sind chillig"
Und da waren Lu und ich wieder allein.
Seufzend kletterte sie auf den kastenförmigen Wassertank und ließ die Beine baumeln. Ich folgte ihr weit weniger elegant, setzte mich dann aber auch hin.
Schweigend sahen wir in die Sterne. Waren das schon immer so viele? Kam mir das nur so vor oder waren es in Köln viel weniger gewesen? Hier war der gesamte Himmel gespickt mit kleinen hellen Punkten, ganzen Ansammlungen und Gruppen.
Luise atmete seufzend auf: „Bin ich wirklich so scheiße?"
Ruckartig sah ich zu ihr rüber.
„Was meinst du?"
Ohne den Blick vom Himmel abzuwenden sagte sie leise: „Ich meine, erst sagt Anni es mir und jetzt nochmal. Irgendwas muss ja dran sein"
„Luise", sagte ich energisch, damit sie mich endlich ansah: „Du bist der netteste Mensch auf diesem Planeten"
„Nett ist die kleine Schwester von scheiße", murmelte sie leise und sah wieder weg.
Ich seufzte: „Ich meins ernst. Ich frag mich echt, was das Problem von dieser Kuh war. Du wolltest halt nur nicht Manu küssen, was ich voll und ganz nachvollziehen kann"
„Weißt du, was mich am meisten nervt?", unterbrach sie mich und sah mich wieder aus glasigen Augen an.
Ich schüttelte den Kopf: „Dass Marie und Jessica sonst immer voll die Mitleidsnummer schieben, aber sobald ihnen was nicht passt, werfen sie mir das alles vor"
„Was alles überhaupt?", fragte ich. Dass alle Mitleid hatten, hatte ich begriffen, aber nur weil Luises Dad viel arbeitete, konnte das ja nicht sein.
Fast schon wütend murmelte sie: „Alles eben"
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Von heteronormativer Hölle und einem Ziegenmädchen
Ficção AdolescenteMila hat keine Lust. Keine Lust auf schlechtes Internet. Keine Lust auf ihre Mutter und ihren Ökotrip. Keine Lust auf nervige Dorfkinder und erst recht keine Lust auf das verdammte Dreckskaff, in das ihre Mutter sie verschleppen will. Es ist wortwö...