Mein Handy vibrierte. Wer sollte mich denn jetzt anrufen? Genervt zog ich mein Handy aus der Hosentasche. Oh ne, da hatte ich ja mal absolut keine Lust drauf. Schnell lehnte ich den Anruf ab.
„Wer war das?", fragte Luise neugierig.
Ich schnaubte genervt und murrte: „Ex-Freundin"
Warum die jetzt wieder angekrochen kommen musste, wusste ich auch nicht. Nachdem sie es für nötig hielt, mir fremd gehen zu müssen und wir uns riesig gestritten hatten, hatten wir uns eigentlich größtenteils ignoriert und um ehrlich zu sein fragte ich mich auch, warum ich sie nicht direkt blockiert hatte.
„Streit?", fragte Anni mitleidig.
Ich zuckte mit den Achseln: „Ist mir fremdgegangen und dann wars halt aus"
Plötzlich wurden Annis Augen riesig: „SO eine Freundin?"
Achja, die beiden hatten ja noch keine Ahnung, dass ich auf Frauen stand. Zuhause war das für die meisten die ich traf relativ schnell klar. Immerhin hatte ich nicht nur ein Septum, sondern auch noch Vans und auf meiner Handyhülle war ein dicker Regenbogen. Hier hatte man davon wohl nicht so viel Ahnung.
„Ja, ich bin lesbisch. Ist das ein Problem?", fragte ich leicht provokant. Trotzdem betete ich heimlich dafür, dass die beiden nicht homophob waren, denn an sich fand ich sie bis jetzt ziemlich nett.
„Nö", meinte Lu und Anni stimmte zu: „Dann kannst du mir immerhin keinen Kerl ausspannen"
Lu lachte: „Als ob du auch nur irgendwen finden würdest!"
Nachdem Anni der Rothaarigen einen fiesen Gehfehler verpasst hatte, fragte ich: „Und was machen wir jetzt?"
Wir waren auf dem Rückweg von Tobi und seiner Horrorwerkstatt und latschten nun durch das Dorf. Davor mussten wir zwar erst den ewig langen Feldweg entlang dackeln, weil Tobis Familie selbst außerhalb vom Außerhalb lebte. Das stellte ich mir sehr belastend vor. Am Arsch der Welt vom Arsch der Welt.
„Wir könnten zu Kim", schlug Lu achselzuckend vor. Anni stöhnte genervt: „Och nee"
„Wer ist das denn?", fragte ich. Es war echt erstaunlich wie viele Menschen die beiden kannten, obwohl es nur so wenig Menschen gab.
Lu meinte: „Du würdest Kim bestimmt mögen. Sie ist mega nett und hat auch so einen kleinen Hund wie du"
Anni schnaubte und stupste ihre Freundin an: „Du magst sie doch nur, weil ihre Mutter dir aus Mitleid immer Essen gibt! Kim ist voll komisch"
„Das stimmt doch gar nicht! Kim hilft mir auch immer bei den Hausaufgaben. Ich mach die Deutschaufgaben, sie meine in Englisch", verteidigte die Rothaarige sich „Das Essen ist nur so nebenbei"
Etwas verstört fragte ich: „Was?"
„Kims Mutter hat wie alle anderen Frauen im Umkreis von zwanzig Kilometern Mitleid mit der armen kleinen Luise und darum gibts bei ihr alle paar Wochen amerikanische Spezialitäten", erklärte Anni grinsend, während Luise rot anlief und rief: „Hör auf!"
„Warum sollten die denn Mitleid mit dir haben?", fragte ich.
Anni machte schon den Mund auf, doch Luise unterbrach sie beschämt: „Ist doch egal!"
Was auch immer da los war. Konnten die das nicht einfach sagen?
„Dann gehen wir eben nicht zu Kim", nuschelte Luise etwas beleidigt. Wow, das erste mal, dass Luise nicht unnormal gut gelaunt war. Sollte ich mir vielleicht notieren.
Anni fand das nur gut und schlug stattdessen vor zum Supermarkt zu gehen, um Süßes zu besorgen. Das fanden alle in Ordnung und als wir da waren, hatte auch Luise wieder gute Laune.
Als wir schließlich beladen mit allerhand Krimskrams wieder rauskamen (es war absolut nicht normal, dass die beiden sich zusammen mehr als fünf Tafeln Schokolade kauften), riss Luise direkt die erste Packung Gummibärchen auf und hielt sie uns hin. Ich lehnte dankend ab und biss stattdessen in meinen Apfel. Shopping mal anders... super.
Auf dem Parkplatz mussten die beiden sich dann erstmal sortieren und schauen, wo sie ihre ganzen ungesunden Einkäufe unterbringen konnten. Na bevor man einkaufte, sollte man vielleicht auch schauen, ob man den ganzen Müll überhaupt tragen konnte.
Ein Junge schlenderte über den Parkplatz, das hätte ich zumindest auf den ersten Blick gedacht, denn Luise rief: „Kim!" und winkte stürmisch. Anni verdrehte genervt die Augen.
Luise grinste triumphierend.
Der Junge, der jetzt wohl doch ein Mädchen war, kam mit den Händen in der Bauchtasche des riesigen schwarzen Pullis auf uns zu. Die Haare sahen aus, als hätte sie sie in völliger Verzweiflung im Dunkeln mit einer Kinderbastelschere geschnitten und sowohl Pulli als auch Jogginghose versteckten jegliche Konturen.
Um ehrlich zu sein hatte ich einen Verdacht, der auch noch verstärkt wurde, als Kim Luise die Faust zur Begrüßung hinstreckte und dann mit erstaunlich tief gedrückter Stimme fragte: „Na wie gehts?"
Uff. Das war ja mal sowasvon offensichtlich.
„Seit wann hast du denn kurze Haare?", fragte Luise verwundert. Kurz huschte Panik über das Gesicht des Mädchens, das wohl lieber ein Junge wäre, ehe Kim sagte: „Ähh... Ich hatte Langeweile"
Luise lachte: „Und da hast du nichts besseres zu tun?"
Verlegen zuckte Kim mit den Schultern.
„Herrgott, Kind!", rief die Rothaarige grinsend, woraufhin eine ältere Dame, die an uns vorbeilief, uns seltsam musterte.
„Du schreist schon wieder", bemerkte Anni, doch Lu zuckte nur mit den Achseln.
Bevor eine unangenehme Stille aufkommen konnte, stellte ich mich vor: „Hey, ich bin Mila"
„Cool, freut mich", meinte Kim und zeigte auch mir die Gettofaust. Ich war mir zu 99,99% sicher, dass „sie" ein „er" war. Besonders, als kurz der Pulli etwas zur Seite rutschte und ich eine Ecke eines Binders erkannte. Da konnte mir keiner mehr erzählen, dass „sie" absolut cis war. Natürlich erwiderte ich die Geste. Lgbtq+ musste zusammenhalten, auch wenn man noch ungeoutet war! Immerhin nicht zu 1000% heteronormativ... Hoffnung? Vielleicht ein bisschen.
Aber schnell verabschiedete Kim sich wieder, weil die Mutter irgendwie irgendwas vom Supermarkt brauchte.
„Tschüssi!", rief Luise noch hinterher, ehe sie sich an Anni wandte und besserwisserisch meinte: „Ich sagte doch, dass Kim in Ordnung ist"
Anni verdrehte die Augen: „Sie ist voll komisch!"
„Aber du bist normal oder wie?", fragte Luise schnaubend.
Und wieder ging das Gekabbel los... Puh das war ja schlimmer als in einem Kindergarten. Vielleicht bewirkten die Inzestgene ja, dass alle hier ein wenig zurückgeblieben waren?
„Du gehst noch zur Schule, oder?", fragte Anni plötzlich.
Ich nickte und meinte belustigt: „Ja klar"
„Und wo dann?", fragte sie weiter.
Das war eine gute Frage. Zuhause war ich ja immer einfach auf das nächstgelegene Gymnasium gegangen, aber hier konnte man ja nie wirklich von „Nahe gelegen" sprechen.
„In welche Klasse denn?", fragte Luise hilfsbereit nach.
„Elfte", meinte ich kurz. Wie sollte ihr das denn weiterhelfen... achja, ich hatte vergessen wo wir hier waren: „Dann gehst du wohl auch nach Roslangen. Das ist das einzige Gymnasium hier in der Gegend. Da gehen Kim und ich nach den Freien auch hin"
„Ja, Kim und du...", fauchte Anni beleidigt und beinahe bekam ich das Gefühl, dass Anni relativ besitzergreifend war.
„Warum warst du nicht auch vorher schon auf der Schule?", fragte ich, vielleicht auch, um einen weiteren Streit zwischen Luise und ihrer besten Freundin zu vermeiden.
Luise überlegte kurz, ehe sie antwortete: „Also hier in Kükensbrück ist die Oberschule und die ist halt näher dran als Roslangen, also gehen eigentlich alle erstmal bis zur Zehnten auf die Oberschule und dann kann man immernoch schauen, ob man eine Ausbildung oder Abitur machen will. Wenn man dann eh nur ne Ausbildung will, muss man ja nicht jahrelang ewig nach Roslangen gurken"
Seltsame Menschen.
DU LIEST GERADE
Von heteronormativer Hölle und einem Ziegenmädchen
Novela JuvenilMila hat keine Lust. Keine Lust auf schlechtes Internet. Keine Lust auf ihre Mutter und ihren Ökotrip. Keine Lust auf nervige Dorfkinder und erst recht keine Lust auf das verdammte Dreckskaff, in das ihre Mutter sie verschleppen will. Es ist wortwö...