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Wieder war es still. Die Grillen zirpten im Gras und der helle Mond schien uns auf den Kopf. Wir konnte fast über das gesamte Lager sehen. Ganz hinten bei den Dixiklos standen drei dunkle Gestalten, kaum sichtbar im Mondschein, nur erkennbar durch die drei Glimmstängel.

In einem der Zelte waren noch die Schatten zweier Kinder zu sehen, die sich wohl Gruselgeschichten erzählten.

„Meine Mama ist gestorben, als ich acht war", fing Luise stockend an.

„Oh", meinte ich wenig sensibel und hätte mich im selben Moment dafür schlagen können. Alleine wie sehnsuchtsvoll sie das Wort Mama aussprach, merkte ich, wie viel ihr ihre Mutter bedeutet haben musste. Es erinnerte mich daran wie Kinder über ihre Mütter redeten. Als ob sie das Ultimum waren. Luise war nie über den Punkt hinausgekommen. Sie hatte nie dich Chance gehabt, sich mit ihrer Mutter wegen normalen Teenagerthemen zu streiten. Für sie würde sie immer die Mutter bleiben, die sie war, als sie ein Grundschulkind war.

„Wie?", fragte ich dann, um meinen blöden Kommentar zu überspielen.

„Krebs", meinte Lu kurz angebunden und starrte dabei weiter in den Himmel „Sie ist erst viel zu spät zum Arzt gegangen, weil sie so viel zu tun hatte, ich meine sie hatte ein zweijähriges Kind und zehn Pferde im Stall..."

Ihre Stimme versagte. Sie räusperte sich: „Jedenfalls konnten sie da nichts mehr für sie tun. Nach ein paar Monaten gings ihr so schlecht, dass sie kaum noch aufstehen konnte. Jedes Mal, wenn ich von der Schule kam, hatte ich Angst, dass sie nicht mehr da sein könnte. Niemand hat es mir so gesagt, aber irgendwie wusste ich, dass sie stirbt"

Die raue Stimme blieb gleichmäßig, allerdings bebte ihr Atem.

Ich stellte mir Luise vor, als kleines Mädchen. Zu jung um zu verstehen, was wirklich vorging, aber alt genug um sich der Konsequenzen bewusst zu sein, unfähig was zu machen.

„Irgendwann bin ich morgens aufgewacht, weil Ben geweint hat und wollte zu meinen Eltern ins Schlafzimmer, aber Papa saß schon in der Küche. Als ich ihn gesehen hab, wusste ich schon was los war. Er hat geraucht und hatte verweinte Augen. Ich hatte nie gedacht, dass Papas weinen können. Jetzt hört sich das vielleicht blöd an, aber ich dachte immer, dass Eltern sowas einfach nicht machen und nur die Kinder trösten, wenn die weinen. Ist bescheuert ich weiß"

„Ist es nicht", flüsterte ich. Als ich meine Mutter das erste Mal hatte weinen sehen, hatte mich das auch wahnsinnig erschreckt. Was war schon so groß, dass es die Person, die jedes Wehwehchen heilen konnte, zum Weinen brachte? „Ich hab meine Mutter zum ersten Mal weinen sehen, als mein Erzeuger uns verlassen hat"

„Das tut mir leid", meinte Luise leise. Tja, das war definitiv besser als „Oh"

„Und was ist dann passiert?", fragte ich vorsichtig.

Und Luise erzählte. Leise und mit kratziger Stimme: „Dann hat Oma sich um Ben und mich gekümmert. Sie war zwar nicht Mama, aber sie war immer für uns da" sie machte eine Pause und fuhr mit brüchiger Stimme fort: „Vor fast drei Jahren war ich bei Anni. Den ganzen Tag, wie immer. Dann bin ich nach Hause gegangen und auf unseren Hof. Und am Gemüsegartentor hing Omas Strickjacke, also bin ich hingegangen. Erst dachte ich, dass sie einfach nur hingefallen war" sie schluckte „Ich bin zu ihr gegangen und wollte ihr aufhelfen, aber sie war ganz starr und hat mich voll komisch angestarrt. Ich wusste nicht was ich machen sollte. Papa war Mais fahren und Opa auf Auktion, also sind irgendwie die Sicherungen durchgebrannt. Ich bin schreiend auf die Straße gerannt und hab nach Hilfe gerufen, bis irgendwann Alfred rauskam und mich wie ein Kaninchen geschüttelt hat. Ich kann mich kaum noch dran erinnern, was dann war. Nur, dass ich irgendwann, als es schon dunkel wurde, mit einer Frau vom Rettungsdienst im Krankenwagen saß und ich Cola trinken durfte. Alfred hatte sie angerufen. Als sie Oma dann auf einer Trage an mir vorbei getragen haben, bin ich weggerannt. Zu Anni. Hannes hat mir aufgemacht und wir haben zu dritt Kakao getrunken, bis uns allen schlecht war"

Ich schluckte. So viel Pech musste man erstmal haben. Erst die Mutter und dann die Oma verlieren. Zwei Bezugspersonen in wenigen Jahren.

Das passte überhaupt nicht in das Bild, das ich die erste Zeit über von ihr gehabt hatte. Behütet, nichtsahnend, dem Glauben an eine heile Welt verfallen.

Falsch gedacht.

„Und dein Vater?", fragte ich vorsichtig. Wenn einmal die Zeit war, endlich alles über Lu herauszufinden, dann wohl jetzt.

Sie seufzte: „Der kommt nicht damit klar, dass Mama tot ist. Als Oma noch da war, hat sie ihm ein wenig geholfen, aber seitdem sie weg ist, trinkt er zu viel. Manchmal kann er dann nicht mehr klar denken und wird wütend"

Ich runzelte die Stirn: „Und warum machst du da nichts? Ich meine, da gibts ja genug Möglichkeiten, um dagegen vorzugehen"

Lu wandte den Kopf ab: „Fang jetzt nicht so wie Anni an"

„Nein, ehrlich, das kannst du doch so nicht gut finden"

Die Idee, sich einfach damit abzufinden, dass der Vater einen schlug, fand ich doch etwas befremdlich.

„Natürlich find ich das nicht gut! Aber was ist denn die Alternative? Ich könnte zur Polizei oder zum Jugendamt oder sonst was rennen, aber dann würden die mich in irgendein bescheuertes Heim oder so ein betreutes Wohnen sonst wo stecken. Aber ich will hier nicht weg. Das hier", sie machte eine ausladende Geste, die die gesamte Umgebung umfasste „ist mein Zuhause. Hier sind meine Freunde, meine Pferde und meine Familie. Ohne sie lohnt sich das alles nicht. Ganz abgesehen davon würde mein Bruder mich bis ans Ende seines Lebens hassen, wenn ich dafür sorgen würde, dass er auch hier weg muss. Er liebt diesen Ort mindestens genauso sehr wie ich und ich würde ihm seine komplette Kindheit zerstören, wenn ich dem Jugendamt sage, dass unser Vater ein Trinker ist und er deswegen in ein Heim muss. Das könnte ich mir nicht verzeihen. Denk nicht, dass ich nicht schon alle Möglichkeiten durchgespielt hätte. Denn das hab ich"

Ich schluckte. Natürlich. Wenn Luise zum Jugendamt ging, würde das natürlich auch auf ihren Bruder zurückfallen.

„Aber Opa hat ja schon entschieden, dass ihm Bens Wille egal ist, also naja...", murmelte Luise sauer.

Fragend sah ich zu ihr.

Auf meinen Blick hin, sagte sie: „Er will, dass Ben ab nächstem Schuljahr auf ein Internat geht. Weil er schon auf diesem Internat war und mein Onkel auch, blablabla, Familientraditionen und sowas. Aber das kann er Ben nicht antun! Ich meine, er ist dazu viel zu sehr Dorfkind"

„Und was sagt Ben dazu?", fragte ich.

„Er weiß es noch nicht"

„Oh"

Es wurde wieder still.

Die Stimmen beim verglühenden Lagerfeuer waren größtenteils verstummt, sodass nurnoch das leise Rascheln der Blätter zu hören war.

„Und warum musstest du nicht auf dieses Internat, wenn das so eine Familientradition ist?", fragte ich.

Lu schnaubte böse: „Weil ich ein Mädchen bin"

Oh man. Der leise Glaube daran, dass diese Gegend doch nicht ganz so zurückgeblieben war, wie ich erwartet hatte, fiel in sich zusammen.

„Ich meine, es stört mich nicht, dass ich nicht auf dieses dumme Internat musste, aber... ich weiß nicht"

„Verstehe", meinte ich. Nur weil man ein anderes Geschlecht hatte, anders behandelt zu werden und so das Gefühl zu bekommen, weniger wert zu sein, war scheiße. Egal worum es ging.

Lu seufzte: „Ich weiß, dass es für Ben auch irgendwie gut wäre, weil er eben nicht die ganze Zeit mit Papa verbringen müsste, aber... er ist mein Bruder und er ist glücklich hier"

Ich nickte langsam und legte einen Arm um Luise, um mit meinen Fingern kleine Kreise auf ihren Rücken zu ziehen.

„Und jetzt nerv ich dich mit dem ganzen Müll", schloss Luise verzweifelt und verdeckte ihr Gesicht mit den Händen.

Hilflos legte ich meinen Arm enger um sie und murmelte: „Alles gut. Ich hab ja gefragt"

Von heteronormativer Hölle und einem Ziegenmädchen Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt