35. Wilde Raben

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Die nächsten Tage vergingen wie im Flug und bald war der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien angebrochen. Schüler wie Lehrer waren damit beschäftigt, sich abreisebereit zu machen, sodass das Schloss erfüllt war von geschäftigem Treiben. Minerva würde bis Weihnachten in Hogwarts bleiben, um die bleibenden Schüler zu beaufsichtigen, Elenora jedoch würde wie geplant für drei Tage nach England reisen, um Bill, Fleur und Charlie zu besuchen. So stand sie gerade mitten in ihrem Büro und packte ihre kleine Reisetasche, als es an der Tür klopfte und Severus seinen Kopf ins Zimmer steckte. Elenora drehte sich zu ihm um und erkannte überrascht, dass der Slytherin seine Reiserobe trug. „Du gehst jetzt schon?", fragte sie und Severus nickte. „Ja, ich muss noch einige Besorgungen in der Winkelgasse machen." Der Slytherin-Hauslehrer reiste wie viele Lehrer zu Weihnachten nach Hause, um sich während der Feiertage etwas auszuruhen. Elenora räusperte sich und sagte: „Ich verstehe. Bevor du gehst..." Sie trat an ihren Schreibtisch, öffnete eine Schublade und zog ein kleines Päckchen heraus. Dann machte sie einen Schritt auf Snape zu, der die Augenbrauen in die Höhe zog. „Hier, dein Weihnachtsgeschenk.", murmelte Elenora verlegen und überreichte dem überraschten Slytherin das Paket. Er neigte zum Dank den Kopf und sah sie dann mit einem beinahe warmen Blick an. „Frohe Weihnachten, Severus." „Frohe Weihnachten, Elenora. Bis bald." Die junge Frau lächelte und sah zu, wie der schwarzgekleidete Mann sich umdrehte und mit seinem Koffer in der Hand im Gang verschwand. Ohne ihn, Aria Eastwood und Rolanda Hooch würden die Tage nach ihrer Rückkehr zum Schloss wesentlich langweiliger werden. Vielleicht war es aber auch ein guter Zeitpunkt, die anderen Professoren näher kennenzulernen, vor allem die, die nach der Schlacht in Hogwarts neu dazugekommen waren. Während Elenora ein paar letzte Päckchen in ihrer Tasche verstaute, ging sie in Gedanken schon einmal ihre Reiseroute durch. Eigentlich hatte sie erst vorgehabt, sich direkt in den kleinen Vorort Londons zu porten, aber so ganz angstfrei war sie nach dem Erlebnis im Herbst noch nicht. Also hatte sie sich kurzerhand auch ein Zugticket nach London gekauft und würde dann von dort aus apparieren, denn von der Großstadt aus war es wirklich nur noch ein Katzensprung bis nach Cliffsend. Mit einem Ruck hob die junge Frau ihre Reisetasche hoch und schnappte sich auf dem Weg zur Tür noch ihren Reisemantel. Mit einem letzten prüfenden Blick löschte sie das Kaminfeuer und zog mit einer Handbewegung die Vorhänge zu, dann drehte sie sich um und trat aus ihrem Zimmer. Desto näher sie der Eingangshalle kam, desto lauter konnte man geschäftiges Fußgetrappel und lautes Stimmengewirr hören. Elenora bog um die Ecke und fand sich inmitten der Schülermenge wieder, die auf dem Weg zur Bahnstation waren. Weiter vorne entdeckte sie auch die Schulleiterin, die versuchte, ein bisschen Ordnung in das Chaos zu bringen. „Mr. Nazif, ihre Mitschüler herum zu schubsen bringt Sie auch nicht schneller voran! Ihr Ravenclaws, hört auf zu drängeln! Sie kommen alle rechtzeitig zum Zug, das verspreche ich Ihnen!", rief sie quer durch die Halle. Als sie ihre Nichte auf sich zukommen sah, bahnte sich die ehemalige Gryffindor einen Weg zu ihr durch. „Elenora, Liebes! Wärst du so nett und wirfst ein Auge auf diese Ravenclaws da drüben bis zum Zug? Sie sind fürchterlich ungestüm." „Sicher doch, Mina. Bis bald!" „Gute Reise! Oh, und grüße Molly von mir, wenn du sie siehst!" Mit diesen Worten wandte sich Minerva wieder dem Chaos hinter ihr zu und Elenora ließ sich von dem Strom mitziehen, ohne die besagten Ravenclaws aus den Augen zu verlieren. In der Tat schienen es die vier Jungen und Mädchen besonders eilig zu haben, denn einer von ihnen schubste einen Erstklässler aus dem Weg und seine Hausgenossen boxten sich hinter ihm her. Das reicht jetzt, dachte Elenora entrüstet und bahnte sich einen Weg zu der kleinen Gruppe durch, was ihr als Lehrerin glücklicherweise einfach fiel. Gerade als sie bei ihnen angekommen war, lichtete sich die Menge und die vier Schüler stürmten los in Richtung des schon wartenden Zuges. Elenora blieb stehen und rief mit lauter Stimme: „Halt, nicht so schnell!" Die Gruppe kam schliddernd zum Stehen und die vier drehten sich langsam zu der Professorin um. Elenora trat näher an sie heran und verschränkte die Arme. „Wollen Sie mir vielleicht erklären, warum Sie es so eilig haben?" Einer der Jungen kniff die Lippen zusammen und sah der Lehrerin mit festem Blick in die Augen. „Naja, wir wollen unbedingt dieses eine Zugabteil..." „...und dafür müssen Sie sich Ihren Weg aus dem Haus freiprügeln?", giftete Elenora eine Spur härter als sie wollte. Die vier Schüler sahen schuldbewusst zu Boden und kneteten unruhig ihre Hände. Elenora seufzte und fragte dann etwas milder: „Die Namen?" „Berk, fünfte Klasse." „Gómez, Fünfte." „Alba Coleman, auch Fünfte." „Dawson, sechste Klasse.", kam es der Reihe nach gemurmelt zurück. „Nun denn, meine Damen und Herren, ich erwarte, dass Sie sich bei ihren Mitschülern für ihr rüges Verhalten entschuldigen. Außerdem werden Sie ein Abteil in meiner Nähe wählen, damit ich sicher gehen kann, dass Sie keinen weiteren Unfug mehr anstellen, bis wir in London sind.", sagte Elenora bestimmt und löste damit frustriertes Schnauben und enttäuschte Blicke bei den Ravenclaws aus. „Schauen Sie mich nicht so an, Dawson, schließlich sind Sie selbst schuld an Ihrem Schicksal. Lernen Sie daraus!", sagte Elenora mit hochgezogenen Augenbrauen an den Sechstklässler gewandt, der ihr einen bösen Blick zuwarf. „Nach Ihnen.", fügte sie noch hinzu und deutete auf den schneebedeckten Weg vor ihr. Die Schüler schritten jetzt brav und in angemessenem Tempo vor der Gryffindor her und warteten dann zusammen mit ihr, bis alle anderen Schüler eingestiegen waren. Als Elenora sich vergewissert hatte, dass niemand mehr auf dem Bahngleis war, winkte sie Hagrid kurz zum Abschied zu und stieg dann ebenfalls ein. Verwunderte Blicke der Schüler blieben an der jungen Frau hängen, was zum einen daran lag, dass Lehrer nur selten den Hogwarts-Express benutzen, und zum anderen, weil eine Schar griesgrämig dreinschauender Ravenclaws im Gänsemarsch hinter ihr herlief. Desto näher die Gruppe der Lok kam, desto weniger Schüler saßen in den Abteilen. Endlich hatte Elenora ein Leeres gefunden und öffnete die Abteiltür. Die Ravenclaws traten murrend ein, und mit einem letzten sehnsüchtigen Blick zum hinteren Teil des Zuges gab sich dann auch Dawson geschlagen und ließ sich auf die Sitzbank neben seinem Kollegen fallen. „Ich bin gleich nebenan, also benehmen Sie sich.", erklärte Elenora und verließ das Abteil mit einem letzten strengen Blick. Das anliegende Abteil war zum Glück auch leer und so setze sich die junge Professorin auf einen der Fensterplätze. Der Zug war schon angefahren und die weiße Landschaft zog immer schneller an ihr vorbei, bis die Bäume zu einem weiß-grünen Strudel verschwammen. Entspannt zog Elenora ein Buch aus ihrer Tasche und schlug es auf, denn jetzt hatte sie jede Menge Zeit zum Lesen. Sie wollte sich soeben auf die ersten paar Zeilen konzentrieren, als eine gedämpfte Stimme aus dem Nachbarabteil an ihr Ohr dran. „McGonagall ist so eine Spielverderberin! Echt, sie hängt der Alten in nichts nach." „Pscht, nicht so laut! Am Ende hört sie uns noch und wir kriegen Strafarbeiten über die Weihnachtsferien!" „Ist mir doch egal, Alba! Von mir aus kann sie mich ruhig hören. Ich habe keine Angst vor ihr." „Solltest du aber vielleicht! Schließlich ist sie die Nichte der vielleicht mächtigsten Hexe der Welt! Ich hab' gehört, dass sie in der Schlacht von Hogwarts wie zehn Zauberer gekämpft haben soll." „Ich frage mich ja, warum sie dann nicht Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichtet? Ich meine, sie ist doch allemal besser als der alte Rodin!" „Hast du's noch nicht gehört? Nächstes Jahr geht der in Rente und McGonnie übernimmt seine Stelle!" „Na also! Moment, wer macht dann Pflege der magischen Geschöpfe?" „Keine Ahnung, wahrscheinlich jemand Neues." Elenora schnaubte und konzentrierte sich wieder auf ihr Buch. McGonnie. Was für ein fürchterlicher Spitzname. Natürlich wusste sie, dass Schüler sich gerne Spitznamen für ihre Lehrer ausdachten, aber sie hatte gehofft, ihre Schüler hätten etwas mehr Geschmack. Seufzend warf Elenora einen kurzen Blick aus dem Fenster, wo kleine Schneeflocken in stetigem Tempo zu Boden fielen. Schottlands Highlands sahen auch im Winter geradezu majestätisch aus und Elenora entspannte sich wieder. Gekonnt blendete die junge Frau das Getratschte ihrer Schüler aus und ließ sich wieder in den Bann ihres Historienromans ziehen.

A Hogwarts Love StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt