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Jeno

Montag, 7:41 Uhr. Ich stehe am Spind und sortiere Bücher ein. „Wow, wir hätten sie echt abrasieren sollen", murmelt Mark. „Ja, ich vermisse es, als ich vor fünf Minuten noch ‚der Blauhaarige' war", seufze ich, „Jetzt bin ich Jeno, das neue Anhängsel von Jaemin. Und wir sind ja ‚sooo süß' zusammen."

Mit hunderten Blicken im Rücken stelle ich gespielt konzentriert das Chemiebuch neben Englisch. „Hey, Jeno!" Die Stimme ist höher als Marks, und sie klingt fremd und total motiviert. Das ist definitiv nicht Mark. Ich klappe den Spind zu, um meinen besten Freund drei Meter entfernt dümmlich grinsend stehen zu sehen. Vor mir einen anderen Jungen, mit ordentlichen, lässigen Klamotten und perfekt-fluffigen, schwarzgefärbten Haaren. Und einem lieben Lächeln.

Vor Schreck lasse ich fast mein Chemie-Merkheftheft fallen. Ich habe mich aber schnell wieder von dem Schock erholt, dass jemand anderes als der blonde verrückte Junge bei mir steht und mich sogar anspricht. Das Heftlein presse ich mir an die Brust.

„Hallo, Jaemin."

„Na, wie geht's dir?"

„Ganz gut, danke. Und selbst?"

Dass ich total paranoid bin und am liebst hier rausrennen würde – das braucht er nicht zu wissen.

„Gut!" Er strahlt und ich weiß nicht, was ich sagen soll. So entsteht eine kurze Pause, bis er versteht, dass ich nichts mehr sagen werde. „Naja, wie dem auch sei: willst du heute in der Mittagspause mit mir essen?"

Ich weiß ehrlich nicht, ob das Flirten ist – ich habe null Erfahrung in sowas – und eigentlich hält sich meine Lust, Zeit mit Na Jaemin zu verbringen, in Grenzen, aber ich denke an meine Eomma. Eine alleinerziehende Frau mit zwei Jobs, deren Sohn 17 ist, schwul und ungeküsst, endlos begeistert von Jaemin, seinem ‚Freund'.

„Wieso nicht? Gerne."

Jaemin erwidert mein schüchternes Lächeln erleichtert. „Super! Treffen wir uns vor der Kantine?"

„Ja, klingt gut."

„Super!"

Jaemin strahlt immer noch und bleibt stehen, als würde er noch auf irgendwas warten.

„Aber könnten wir vielleicht draußen essen? Die gucken alle so gruselig.", schiebe ich hinterher und bin stolz auf mich, meine eigenen Bedürfnisse mal nicht heruntergeschluckt zu haben.

Es sollte kein Vorwurf sein, überhaupt nicht, aber Jaemins Gesichtsausdruck nimmt sofort bestürzte Züge an. „Oh, das tut mir wirklich leid!" Ich winke ab. „Schon in Ordnung." Ich hole die Bücher für heute aus dem Spind und packe sie in meinen Rucksack. Damit hat Jaemin wohl verstanden, dass das Gespräch für mich beendet ist.

Er verabschiedet sich freundlich und läuft beschwingten Schrittes davon.

Im Gegensatz zu mir prallen die vielen neugierigen Blick einfach an ihm ab. Ich gucke ihm hinterher, verstehe wirklich nicht, warum ungefähr jeder auf der Schule auf ihn steht. Gut, er sieht gut aus, ist freundlich, hat gute Noten und ist eigentlich ein Traumschwiegersohn. Kein Wunder, dass meine Mutter so hin und weg ist.

Nur eben ich nicht.

Aber wer weiß, was ich auf der Party gemacht oder gedacht habe.

„Und, was wollte er?" Mark steht direkt wieder neben mir und hat ein breites, verschmitztes Grinsen auf den Lippen.

„Du hast doch sowieso gelauscht, oder?" Seufzend schließe ich den Spind zu. „Ja, aber ich will es von dir hören!"

„Ist schon mal ein guter Anfang, wenn er irgendwann meine Mutter kennenlernen soll."

„Man, du bist sowas von unromantisch!"

„Mag sein. Wäre nur cool, wenn er trotzdem mal bei uns aufkreuzt. Und du musst dir für heute Mittag einen anderen Essenspartner suchen."

Bei Mark ist es weder schlimm, ihn zu versetzen, denn er nimmt alles ziemlich locker, noch sonderlich schwer für ihn, sich wem anders anzuschließen. In gefühlt jeder Jahrgangstufe hat er Bekannte, in der ganzen Oberstufe auch gute Freunde. Er ist einfach ein krasser Gegensatz zu mir, ein Menschenfreund, wie es schlimmer nicht sei könnte, mit sozialen Kontakten überall.

Vermutlich ist Mark einer dieser Menschen, die alle ihre Facebook-Freunde persönlich kennen. 

cheese [nomin]Where stories live. Discover now