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!!!Triggerwarnung Essstörung & Therapie & Depressionen!!!

"Wie geht's dir?" fragt Felix und versucht dabei extra tonlos zu klingen, obwohl es ihn natürlich brennend interessiert und er insgeheim hofft, dass es Tommi wegen ihres Streits genauso schlecht geht wie ihm selbst.
"Scheiße." antwortet dieser, schaut nach unten zu dem Hund und beißt sich auf die Unterlippe. "Dir?" fragt er zurück und schafft es nicht, Felix anzuschauen.
"Richtig scheiße." sagt dieser und verzieht die Mundwinkel.

Stumm gehen sie ein Stück weiter. Das Feld, auf das sie zusteuern, ist weitläufig, sie bekommen noch genügend Zeit, um zu reden. Felix nimmt sich mit jedem Schritt fester vor, das Gespräch zielführend zu leiten und überlistet sich mit jedem Schritt, den er beobachtet, weil auch sein Kopf gesenkt ist, mit dem Sprechen anzufangen.

"Also sind wir beide der Meinung, dass das so nicht weitergehen kann und wir wieder zueinander finden müssen?" fragt er nach genau vierundvierzig Schritten. Seine Stimme bricht, Felix hat die letzten Monate kaum geredet. Mit wem auch?
"Ja." erwidert Tommi und auch wenn es von außen nicht so scheint, erkennt Felix eine feste Überzeugung in seiner Antwort.
"Okay, gut, dass wir uns da einig sind." sagt Felix und lässt eine kurze Pause, um zu überprüfen, ob Tommi vielleicht etwas sagen möchte. Negativ.
"Dann möchte ich aber, dass wir beide ab jetzt, also dann immer und auch jetzt während des Gesprächs, ganz offen reden und sofort sagen, wenn uns etwas stört, irgendwas falsch ist oder so, okay?"
Tommi nickt und lässt die Leine des aufgeregten Diegos ein Stück länger, da sie nun einen kleinen Hügel zum freien Feld hinauflaufen.

"Also, dann will ich mal was sagen. Ich hab dich unglaublich stark vermisst." sagt er dann, während er seinem Hund hinterherschaut. "Ich dich auch. Ich hab uns vermisst. Wie wir gemeinsam aufgewacht sind, noch länger, im Bett lagen, dann irgendwann gemeinsam aufgestanden sind, uns gemeinsam für den Tag fertig gemacht haben, gemeinsam Sport gemacht, gemeinsam Zähne geputzt, gemeinsam..."
"Ist okay Felix, ich weiß, was du meinst. Mir geht es doch genauso." unterbricht Tommi und streift den Berliner am Arm. Eigentlich hätte er seine Hand genommen, aber zur Zeit ist das das Maximum an Körperkontakt.

"Mit wem hast du drüber geredet?" fragt Tommi und schaut auf den Boden.
"Worüber?"
"Über...uns...und unsere Situation."
"Mit niemandem."
Das war Tommi fast klar.
"Nicht mal mit Julian oder Juju?"
"Naja, also Julian weiß nur, dass wir uns gestritten haben und du mit meinem Auto hier her gefahren bist. Ich hab' halt gefragt, ob ich sein Auto bekommen kann."
Tommi zieht die Augenbrauen hoch, was Felix zwar nicht sieht, er spürt jedoch, dass für ihn die Geschichte hier noch nicht zu Ende ist.
"Naja, also er hat dich indirekt beleidigt. Er fand die Aktion auch nicht so cool."
Der Detmolder nickt einsichtig.
"Merk dir das Mal bitte mit dem Auto-Thema."
"Und wem hast du's erzählt?"
"Meiner Mutter." antwortet Tommi knapp und beißt sich so schnell danach auf die Lippe, dass Felix das in seiner letzten Silbe noch heraushören kann.
"Und wem noch?" hakt er nach. Tommis Blick geht nach vorn zu Diego, er verfolgt seine Schnüffeleien.

"Ich muss dir noch was sagen." stottert der Größere. Er weiß nicht genau, ob er diese Worte schon aussprechen kann. Aber vor wem, wenn nicht vor Felix? Wann, wenn nicht jetzt?
Der Neuköllner sieht ihn erwartungsvoll an und atmet tief ein.
"Ich bin jetzt bei 'nem Psychologen in Therapie."
Geräuschvoll pustet Felix die Luft wieder aus seiner Lunge. Es ist ein Zeichen der Erleichterung.
Ein ehrliches "Danke." liegt auf seinen Lippen, aber er hat die Hemmungen noch nicht überwunden. Auch, wenn der Vorschlag mit der offenen Kommunikation von ihm kam.

Diego zieht ungeduldig an seiner Leine, mittlerweile laufen sie auf dem Feldweg zwischen unendlichen grünen Flächen rechts und links von ihnen. Tommi pfeift den Hund zu sich heran, gibt ihm ein Leckerli und befreit ihn von seiner Leine. Den unhandlichen Gegenstand steckt er in seine Tasche, er zeichnet sich darin ab. In seiner Verlegenheit schiebt Tommi auch noch die Hände hinein, was die Form der Jacke gänzlich entstellt.

"Danke." platzt es dann doch aus Felix heraus, nachdem sich Diego in seinem freien Wesen wieder viele Meter von ihnen entfernt hat.
Kurz herrscht ein betretenes Schweigen zwischen den beiden, weil es die erste Form von Zuneigung ist, die sie seit mehreren Monaten voneinander erfahren.
Dann schauen sie sich an, lächeln aus Höflichkeit.
"Nee, wirklich danke. War bestimmt nicht einfach für dich, vor allem, weil ich das immer wollte und du mir wahrscheinlich in diesem Moment keinen Gefallen tun wolltest." denkt Felix laut.
"J-ja, stimmt." gibt Tommi zu. Felix entspannt seinen Rücken. Es funktioniert also doch noch mit ihrer nonverbalen Kommunikation.

"Hast du die Tage eigentlich auch mitgezählt?" fragt Felix, um sich davon noch einmal zu überzeugen. Tommi nickt. Sie wissen beide, dass sie die gleiche Zahl im Kopf haben, ohne sie auszusprechen.
Diego bellt. Was auch immer er gerade gefunden hat.
Felix zögert wieder kurz mit seinem nächsten Satz.
Er weiß, das Tommi diese Frage triggern könnte und die Antwort mit einer hohen Wahrscheinlichkeit "Nein" lautet. Aber er findet, dass sie sein muss.
"Hast du heute schon etwas gegessen?" will er vorsichtig wissen.
Tommi schüttelt nüchtern den Kopf, Felix seufzt.
"Ach man, Tommi." sagt er.
"Nicht mal deine Mutter hat dich dazu gebracht?" fragt er weiter, fast schon vorwurfsvoll ihr gegenüber, dass sie die nicht geltende Aufsichtspflicht für ihren erwachsenen Sohn verletzt hat.
"Nee, ich hab ihr gesagt, dass ich zum Frühstück immer nur einen Kaffe trinke."
"Hätte sie nicht wenigstens..."
"Felix, sie weiß davon nichts. Mach ihr bitte keinen Vorwurf. Das ist immernoch meine Sache." erwidert Tommi bestimmt und sieht ihn eindringlich an.
Der Angesprochene schnappt nach Luft. Hier will keiner einen erneuten Streit.

Einige ruhige Sekunden vergehen, in denen sich die Gemüter abkühlen.
"Darf ich mal was ganz konkretes fragen?" tastet sich Felix wieder vorsichtig heran.
Tommi wirft einen suchenden Blick nach dem Hund über die Landschaft und nickt abwesend. "Klar."
"Hey, ich will, dass du mit deinem Kopf hier bist und nicht irgendwo anders." mahnt Felix.
"Ja, sorry." erwidert Tommi und dreht seinen Kopf so schnell zu Felix, dass der Blickkontakt fast schon unerwartet ist.
"Warum?"
"Was "Warum?""
"Warum machst du das?"
"Was denn?"
"Na das mit dem Essen. Warum isst du nichts? Bitte sei ehrlich. Dass du keinen Hunger hast, glaube ich dir schon lange nicht mehr."
"Okay, also erstmal, ich esse nicht nichts." korrigiert Tommi angesäuert.
"Ja, aber auf jeden Fall zu wenig."
"Ja, mag sein, das bedeutet aber nicht, dass ich nichts esse. Dann wäre ich wahrscheinlich nicht mehr hier."

Felix schluckt. Der Gedanke daran gefällt ihm gar nicht. Aber Tommi hat Recht.
"Also?" fragt Felix' Blick. Tommi hat sich diese Worte schon oft und lange zurechtgelegt.
"Hm naja, ich fühle mich einfach zu dick. Jeder Ansatz von Spreckröllchen oder Rundungen oder Fett finde ich einfach ekelig. Dann stehe ich vorm Spiegel und hasse mich selbst, dafür, dass ich gegessen habe. Und mit jedem Bissen, denke ich, dass es ein Fehler ist. Ich denke, dass ich von Reiner Calmund nicht weit entfernt bin."
Er legt eine kurze Pause ein. Das ist das erste Mal, dass er seine Gedanken zu diesem Thema so offen ausspricht.

"Tommi! Du hast einen wunderschönen Körper! Du bist von Reiner Calmund so weit entfernt wie ich davon unironisch "Na sichi!" zu sagen. Du bist überhaupt nicht zu dick. Guck dich doch mal an! Du wirst immer dünner!"
"Ja, mag sein. Meine rationale Seite weiß das auch. Aber die gewinnt fast nie. In meinem Kopf bin ich eine fette Sau."


Keine Angst, sie sind hier noch längst nicht fertig😉 wie gefällt euch ihr Gesprächsstil bis jetzt?

Platzierte, verkopfte, elegalante Gemischtes Hack Story Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt