#130 Überwiegend Macho

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Die letzten Tage waren alles andere als einfach. Irgendwie kam alles auf einmal. Deshalb tut es beiden echt gut, jetzt einfach nur hier zu liegen und die Gedanken schweifen zu lassen.
Da der Tag bereits fortgeschritten ist, beginnt die Sonne unterzugehen. Tommi schaut aus den großen Fenstern und kneift dann die Augen zusammen. Der Neuköllner bewundert Tommis definierte Kieferpartie während er über seinen Rücken streichelt. Wie automatisiert ändern sich dann ihre Blicke; Felix schaut aus dem Fenster und Tommi beobachtet ihn. Seine perfekten Gesichtszüge mit dem ungewöhnlich langen Bart werden in weiches Licht getaucht und lassen seine Erscheinung wie ein Kunstwerk wirken.

Warum auch immer möchte sich Felix nun selbst beweisen, dass er gegen die direkte Lichteinstrahlung ankommen kann und versucht, die Augen nicht reflexartig zuzukneifen, ein alter Wettbewerbstrieb in ihm. Nach einigen Sekunden hält auch er es nicht mehr aus und schaut stattdessen lieber seinen Freund an. Kurz findet er den Gedanken, dass er mit einem Mann in einer ernsthaften, festen Beziehung ist, wieder befremdlich, verwirft dieses Gefühl jedoch sofort, als sich ihre Blicke treffen. Für Tommi scheint es, als seien Felix' Augen wieder aufgeladen, sie sehen noch blauer aus und strahlen noch heller. Der Anblick gibt ihm das Gefühl, dass das noch eine Weile so bleibt. Er lächelt, Felix lächelt zurück.

Dann ertönt wieder dieses unglaublich hässliche Brummen und an Tommis Arm wird es wieder zunehmend straffer. Sie kennen das jetzt mittlerweile schon, alle fünfzehn Minuten wird von dem Gerät, mit welchem Tommis Körper durch unzählige bunte Kabel verbunden ist, sein Blutdruck gemessen. Immer dann muss er stillhalten und darf nicht sprechen. Felix richtet sich auf, lässt Tommis Hand dabei jedoch nicht los, streichelt sie und schaut ihm weiter in die Augen. Dabei fällt ihm auf, dass der Monitor schon länger kein nervtötendes Piepen mehr von sich gegeben hat, weil ihm wieder irgendein Wert nicht gepasst hat. Aber das ist wohl kein allzu schlechtes Zeichen. Die Blutdruckmessung ist beendet, sie zeigt 112/68 an. Was auch immer das bedeuten mag. Felix kann es nicht sagen, er weiß nur, dass er immer noch keine Krankenhäuser mag. Und er hofft inständig, dass jetzt keine Schwester oder ein Pfleger reinkommt, die zwar alle echt nett sind, aber gerade will er sich eigentlich einfach nur auf Tommis Brust legen, seinem Herzen zuhören und sich darüber freuen, dass es noch tut, was es soll. Nur weiß er nicht, ob das so eine gute Idee ist, da sein Freund auch Kabel am Oberkörper kleben hat und beide nicht sicher sind, wie diese auf Druck oder Verschiebung reagieren. Also schaut Felix den Kölner einfach nur weiterhin an, ein bisschen von der Angst geleitet, er könne ihn kaputt machen, so verletzt, wie er gerade schon ist. Normalerweise ist Felix ja überwiegend Macho, doch jetzt weint er wieder stumme Tränen und es scheint, als würde jede Träne ein bisschen von dem Leuchten seiner Augen doch wieder mit herausspülen, was er vorhin so mühevoll eingefangen hat.

Perspektive Felix Manuel Lobrecht

Blaulicht zerreißt mein Sichtfeld, wie visuelle Schüsse einer Maschinenpistole. Dabei bin ich nicht einmal bei ihm, ich sehe das aufgeregte Blinken nur vor meinem geistigen Auge.
Ich war mit Niclas unterwegs, ein alter Klassenkamerad von mir, da bin ich wenig am Handy. Tommi und ich hatten uns ein paar Tagen gestritten, seitdem hatten wir keinen Kontakt mehr. Und ja, ich bereue meine letzten Worte an ihn, allgemein alles, was ich ihm an den Kopf geworfen habe. Ich sitze bei Niclas im Auto und wir fahren zu meinem Vater, weil sie sich schon in unserer Jugend gut verstanden haben und er mittlerweile irgendwo bei Stuttgart wohnt, bei STIHL arbeitet und jetzt für zwei Wochen Berlin wieder besucht.
Als er entspannt seinen Wagen durch den Nachfeierabendverkehr unserer Kindheit lenkt, schaue ich das erste Mal wieder auf mein Handy. Beccy hat mir geschrieben. Siebzehn Mal. Dreizehn verpasste Anrufe, alle von ihr. Ich lese ihre Nachrichten: "FELIX WICHTIG", "Wo bist du gerade", "Bzw hast du grade nerven für nicht so gute Nachrichten", "Schau doch auf dein Handy", danach bricht sie in eine Schimpftirade aus, in der sie mich verflucht, dass sie mich erreichen kann. Noch am Nachmittag hatte ich sie gefragt, wie es ihr gehe, sie antwortete "Hmm passt schon". Ob sie es da schon wusste? Sie hätte mir sicherlich davon erzählt, nicht erst jetzt, 21:35 Uhr. Oder?!

Niclas weiß nicht, dass ich mit einem Mann zusammen bin, geschweige denn, dass ich auf Männer stehe und dass es Tommi ist. Er kennt den Podcast flüchtig. Wir haben viel Zeit unserer Jugend zusammen verbracht und uns bei Problemen mit Frauen teilweise jeden Tag getroffen, um durch die Stadt zu laufen, auf den abgelegenen Wegen, und zu reden. Oder manchmal auch einfach nur, um Blödsinn zu machen. Er hat nie gekifft oder so, trotzdem habe ich mit ihm die coolsten Geschichten erlebt. Ich meine mich zu erinnern, dass sein Großcousin einen Mann hat seit er denken kann, aber Homosexualität war bei uns maximal im Rahmen von Schwulenwitzen ein Thema. Ich habe immer mit mir gehadert, ob ich es ihm sage, weil seit wir wieder mehr Kontakt haben, ich mich daran erinnert habe, was für ein verdammt guter Freund er ist. Und irgendwo verdient er es ja auch, sogar mein Vater wird mich fragen, warum ich es ihm nicht sage. Vielleicht tu ich das noch heute Abend. Aber erst einmal muss ich herausfinden, warum Beccy so dringend meine Aufmerksamkeit benötigt.

"Tommi hatte heute früh nen Unfall"
Mein Kopf wird heiß. Ich kann oder möchte das nicht glauben, wieso sollte er? Er kann sicher Auto fahren, fährt nicht riskant, sondern verantwortungsbewusst. Überschreitet nicht so schnell Geschwindigkeitsbegrenzungen wie ich. Mir müsste soetwas passieren, aber doch nicht Tommi!

Apathisch starre ich aus der Frontscheibe von Niclas' Auto, bekomme die passenden Worte nicht über die Lippen. Ich kann nicht glauben, dass wir auch gerade auf einer Straße unterwegs sind, so wie Tommi es auch war. Natürlich war er das, natürlich sind wir das. Es ist das normalste überhaupt. Oder? Niclas konzentriert sich auf das Fahren und sieht nicht zu mir herüber, besser so.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Beccy mir eine weitere Nachricht geschickt hat. Wie ferngesteuert schaue ich wieder auf das Display. Mir springt der Link zu einem Zeitungsartikel entgegen, viel mehr aber eigentlich das sehr präsente Bild eines zetrümmerten Autos aus der Frontalansicht. Beide Türen sind offen, aus dem Motorblock hängen Kabel heraus und nichts sieht mehr aus, als wäre es ganz. Die Motorhaube des dunklen Autos ist nach hinten oben geschoben, als hätte man Alufolie geknickt. Ich verfalle in eine Schockstarre. Sowas kann ein Mensch nicht überleben. Auf keinen Fall. Und wenn, nur mit unzähligen Schutzengeln, den besten Ärzten der Welt und einer riesigen Portion Glück. Und schweren Folgeschäden.

"Mann verletzt sich bei Unfall schwer. Ein Pkw fährt frontal gegen einen Laster. Sachschaden: rund 24.000 Euro. Aus noch ungeklärten Gründen ist der Fahrer des Pkw in den frühen Morgenstunden in einer Kurve, wahrscheinlich nicht mit überhöhter Geschwindigkeit, von seiner Fahrspur abgekommen und frontal in den ihm entgegenkommenden Laster gekracht. Der 72-jährige Fahrer erlitt leichte Verletzungen, der Unfallfahrer wurde unverzüglich vom Rettungsdienst in ein Krankenhaus gebracht."

Ich murmle leise vor mich hin, Niclas muss das eigentlich hören. Man, Tommi was machst du für eine Scheiße?! Doch nicht jetzt, wo wir uns gestritten haben, nachdem ich drei Monate in einer Klinik war und eigentlich alles hätte besser werden sollen! Wir wollten den besten Sommer unseres Lebens gemeinsam verbringen, hatten große Pläne. Ich bereue es, diesen Streit mit ihm nicht geklärt zu haben bevor wir auseinander gegangen sind.
War er am Handy?
Was wollte er so früh unterwegs? Ich hab keine Ahnung, was seine Pläne zur Zeit sind. Als ich das realisiere, wird der Kloß in meinem Hals noch größer, was ich gar nicht für möglich gehalten hätte. Der Gedanke tut weh. Das muss sich ändern, am besten sofort. Die Fragen werden mehr und ich kann mir keine einzige davon beantworten. In meiner Brust fühle ich ein Brennen. Am liebsten wäre ich gerade einfach bei ihm, wo auch immer das ist. Ich würde wahrscheinlich nicht einmal erfahren, wenn er schon gestorben wäre. Vielleicht würde ich es fühlen, irgendwo in mir drin. Vielleicht sterbe ich dann einfach auch, aus dem Nichts. Weil ich ohne ihn einfach nicht kann.

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