#43 Heute ist morgens

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1. Januar 2020, 11:49 Uhr


Perspektive Felix Manuel Lobrecht 

"Julian? Wo bist du?"
frage ich, mit meiner rechten Hand mein Handy nah ans Ohr gepresst, sodass ich seine Stimme zwischen meinen inneren Schmerzensschreien, die mittlerweile eine unermessliche Lautstärke erreicht haben, noch verstehen kann.
"Zu Hause. Komm vorbei."
Mein Bruder kennt mich gut genug, um allein an meiner Stimme erkennen zu können, wie scheiße es mir geht.
Stumm nicke ich, ohne, dass er es sehen kann.
Doch er weiß auch das.
"Ok. Bin in zehn Minuten da." behaupte ich und lege auf.

Julian ist meine Wortkargheit zwar ein Begriff, im Gegenzug aber kann auch ich an seiner rein verbalen Kommunikation erkennen, dass er sich ernsthaft Sorgen macht.
Zehn Minuten würde mir auch Google Maps prophezeien.
Angesichts meiner körperlichen Verfassung ist diese ekelhaft gerade Zahl jedoch in keinster Weise realistisch.
Der Schmerz, von dem ich nur verschwommen feststellen kann, dass er er von meiner Magengegend ausgeht, durchzieht meinen gesamten Körper.
Ich hatte noch nie ein Schwert von meiner Schulter zum gegenüberliegenden Fuß in mir stecken, aber ungefähr so muss sich das anfühlen.
Jede Bewegung schmerzt, auch, als ich mein Handy wieder in die Hosentasche gleiten lasse.
Schweren Schrittes versuche ich, mich zu orientieren und die Umgebung, in der ich mich befinde, in mein geographisches Gedächtnis einzuordnen und mir eine Richtung auszusuchen, in die ich gehen kann, um schnellstmöglich an meinem Ziel zu gelangen:

Julians Wohnung

"Alter, du siehst ja mal gar nicht gut aus." begrüßt mich mein Bruder an seiner Wohnungstür.
"Danke." gebe ich ironisch zurück und lasse mich auf der nächstbesten Sitzmöglichkeit nieder: ein Holzstuhl, der seit einer eskalierten Party vor zwei Jahren durch einen Gast seinen Platz hier gefunden hatte und nicht mehr verstellt worden war.
Aus dem Augenwinkel sehe ich Jenny, Julians aktuelle Perle. Ich kenne sie nicht persönlich, habe nur grobe Details von ihr erfahren und nicke ihr deshalb nur stumm zu. Ein Lächeln bringe ich nicht zustande.

"Alter, hast du gesoffen?"
Mein Bruder hockt sich vor mich und wedelt beim ersten Atemzug mit der Hand vor dem Gesicht rum.
Ich nicke schwach.
"Ja. Und Sex gehabt. Schlechten Sex."
Ungläubig schaut er mich an; scheint davon auszugehen, dass ich mit meinem Podcastpartner geschlafen habe.
"Also nicht mit Tommi." korrigiere ich zügig und fahre mir durchs Gesicht.
Dabei weiß ich noch nicht einmal mehr, wie sie heißt.

Zirka zehn Sekunden Pause, in der Stille herrscht.
Rein rational sehr bedrückende Stille, aber meine Gedanken sind lauter und verwirrender, als Julian und ich zusammen schreien könnten.

"Bruder, ich hab' ein Problem."
Er scheint nicht überrascht.
"Haste wieder was mit Drogen am Hals?" fragt er und spielt dabei auf meine Jugend an, in der ich weitaus exzessiver im vielfältigen Berliner Angebot involviert war als er. Dass ich seit vielen Jahren aber schon nicht mehr gekifft habe, weiß er. Einen Rückfall scheint er troztdem in Erwägung zu ziehen.

"Nee."
Es fällt mir schwer, zusammenhängende Sätze zu sprechen.
"Ich hab' mich gestern auf Tinder angemeldet."
Julian ist meine Aversion solcher Plattformen gegenüber bekannt.
"Und einfach alles geswipet, was halbwegs gut aussah."
Sein Blick sagt "Klingt nicht nach dir.", er bleibt aber stumm.
"Als Tommi und Selina dann heute morgen los sind..."
"Hast du dich mit einer getroffen?" ergänzt mein Bruder und schaut ungläubig, als ich das mit einem Nicken verifiziere. 
"Wir haben halt gefickt. Es war nicht gut. Überhaupt nicht gut."
Von meiner nach vorn gebeugten Haltung richte ich mich auf und strecke mich kurz, um festzustellen, dass es ein Fehler war, der mich nur noch intensiver an die Schmerzen erinnert.
"Die war irgendwie komisch drauf. Dann hab' ich mich irgendwie so ganz komisch bewegt und seitdem..."
Ich muss aktiv atmen, um meinen Satz zu Ende bringen zu können.
"...kann ich mich vor Schmerzen kaum noch aufs Existieren konzentrieren."

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