#131 Das andere Schottland

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Quälend langsam arbeitet sich die rote Nadel die Skala im Drehzahlbereich hoch, als wir an der letzten Ampel losfahren. Die Luft ist warm, als ich meinen Arm aus dem offenen Fenster halte, trotzdem bekomme ich Gänsehaut und schließe die Augen.
Niclas parkt dann den Wagen in der Nähe der Wohung meines Vaters, legt den ersten Gang ein, zieht die Handbremse an und schaut mich mit einem eindringlichen Blick an. "Felix, was ist los?"

Fuck. Er weiß genau, dass es mir gerade nicht gut geht. Aber was soll ich ihm jetzt sagen? Er weiß es nicht. Nichts weiß er, aber auch gar nichts. Er weiß weder, dass ich in einer Beziehung bin, geschweige denn, dass es ein Mann ist. Wo soll ich da jetzt anfangen? Sollte ich überhaupt anfangen? Auch mein Vater wird später merken, dass es mir gerade absolut scheiße geht. Ihn möchte ich auf keinen Fall mehr anlügen, das habe ich mir geschworen, als ich ausgezogen war. Vor allem nicht bei solchen wichtigen Sachen.

"Erzähle ich dir später, wenn wir drin sind. Mein Vater soll es auch wissen." antworte ich tonlos und lächele gequält. Ich schaffe es nicht, ihn länger als zwei Sekunden anzuschauen und drehe dann wieder meinen Kopf in die andere Richtung und schaue aus dem Fenster, merke, dass es da nichts zu sehen gibt und starre hektisch wieder nach unten auf mein Handy. Das Display ist schwarz. Noch einige Sekunden bleibe ich daran hängen, dann höre ich Niclas seufzen und aussteigen. Ich habe total vergessen, dass wir da sind. Ich bilde mir ein, im Augenwinkel ein Kopfschütteln gesehen zu haben. Scheiße. Ich beiße mir auf die Lippe und schließe die Augen, sofort schießen mir blitzartig Sequenzen durch den Kopf, wie Tommi gegen den LKW fährt und durch das Auto geschleudert wird. Mein Kopf wird heiß und ich merke, wie ich in eine Mischung aus Panikattacke und Heulanfall vefalle. Doch bevor das so richtig in Gang kommt, spüre ich eine große Hand an meiner rechten Schulter.
"Felix?"
Vor ein paar Jahren hätte ich diese Berührung schwul genannt und weggezogen, jetzt finde ich es okay. Eigentlich ist auch Niclas gar nicht der Typ für freundschaftliche Berührungen zwischen Männern. Aber es beruhigt mich, weil Niclas' Hand ungefähr so groß ist wie die von Tommi.
"Ja, ich komme." antworte ich leise und schnalle mich ab. Mein Handy lasse ich währenddessen in die Hosentasche gleiten. Das bleibt jetzt da. Becci weiß, dass sie anrufen soll, wenn etwas Wichtiges ist. Tommi wird jetzt eh nicht anrufen. Meinen Vater sehe ich in zwei Minuten. Und jemand anderen wichtigen gibt es zur Zeit nicht, der meine Aufmerksamkeit verdient.

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"Hallo ihr zwei, freut mich, euch zu sehen!" sagt Frank, als er die beiden an der Wohnungstür begrüßt.
Frank Lobrecht ist ein gestandener Mann, dem man es ansieht, dass er es im Leben nie wirklich leicht hatte. Bei dem die Lachfalten aber auch im ernsten Gesicht nicht zu übersehen sind. Das fällt Felix heute besonders auf. Und auch Niclas fasst Gedanken in dieser Form. Er konnte das noch nie so besonders gut, aber er hat im Gefühl, dass Felix gerade das Gleiche denkt.
"Und Niclas, was machst du jetzt eigentlich so?" fragt er dann, als sie am Tisch sitzen.
"Ich habe Maschinenbau studiert und bin bei der Berfusfeuerwehr." erzählt er stolz und grinst.
"Achso, und zwischendurch war ich noch zwei Monate in Crickhowell, weil ich der Liebe meines Lebens hintergereist bin. Eine Feuerwehrkameradin, die nach dem Fachabi eine Weltreise gemacht hat und die ich einfach nicht loslassen konnte, obwohl sie mir schon zu Beginn einen Korb gegeben hatte."
"Warte mal, Crickhowell. Ist das in Schottland?" fragt Frank.
"Nee, in Wales." antwortet Niclas lächelnd.
"Das andere Schottland halt." ergänzt Felix und schmunzelt vor sich hin.
Danach nimmt Niclas einen Schluck aus seinem Glas Wasser. Felix muss auch schlucken, jedoch ohne etwas getrunken zu haben und schaut dann nach unten auf seinen Schoß.
Was, wenn er einfach die Wahrheit sagt?

"Tommi hatte einen Unfall und ich muss nach Köln. Sofort. Am besten vor zwei Stunden. Er liegt im Koma und niemand weiß, ob er es schaffen wird und wenn ja, wie." sagt er. Der erste Satz hallt noch laut durch die Lobrechtsche Wohnung, weil er will, dass beide es mitbekommen. Gegen Ende hin wird er jedoch immer leiser.
In Franks Augen sieht man den Schock, sie werden erst weit und dann ganz klein. Niclas hingegen ist Feuerwehrmann, für ihn sind Unfälle normal und Tommi spielt in seinem Leben absolut keine Rolle. Er nickt bloß, es ist eine Kombination aus Mitleid und Verständnis.
"Aber ihr seid doch nur Podcastkollegen, oder hab ich da was verpasst? Also klar ist das scheiße, dass er jetzt im Krankenhaus ist, aber musst du jetzt unbedingt der Erste sein, der ihn besucht?" fragt er dann und Felix muss schon wieder schlucken, sieht unsicher zu seinem Vater. Dieser nimmt Felix' Hand und drückt sie fest. In den nächsten Sekunden, in denen sie sich in die Augen schauen, läuft ein einzigartiger Vater-Sohn-Dialog ab.
In Felix' Augen erkennt Frank seine tiefe Unsicherheit und die Angst davor, sich jetzt so spontan vor Niclas zu outen.
Ein kaum merkliches, scheinbar nur für Felix wahrnehmbares Kopfschütteln von Frank bedeutet ihm, es nicht zu tun und einfach den schmalen Grad der Wahrheit weiter entlangzuwandern.

"Wann möchtest du losfahren?" fragt Frank in einem sehr liebevollen Ton, der so klingt, als würde er ihm noch das Auto volltanken und belegte Brötchen zubereiten wollen.
"Wie gesagt, am liebsten wäre ich schon da." antwortet er murmelnd.
"Aber Felix, wann war der Unfall?" fragt Niclas vorsichtig.
"Heute früh irgendwann, um sechs oder so." antwortet er und schaut ihn unsicher an, weil er nicht weiß, worauf er damit hinaus will.
"Ah okay, gut. Trotzdem würde ich dir raten, da vorher mal anzurufen und nachzufragen, ob du ihn besuchen darfst. Die Notaufnahmenpauschalzeit von zwei Stunden ist zwar vorbei, aber da du nur sein Arbeitskollege bist, kann ich dir nicht versprechen, dass du ihn jetzt schon besuchen darfst."

Während Frank für ihn die Nummer heraussucht, erzählt Niclas, dass er, obwohl er absolut kein Blut sehen kann, den Rettungssanitäterlehrgang für die Berufsfeuerwehr gemacht hat und aus der Praxis heraus diese Umstände kennt. Das gibt Felix zwar wenig Hoffnung, aber sehr viel schlimmer kann es heute auch echt nicht mehr werden.
Mit schweren Fingern wählt er dann die Nummer des Krankenhauses und wie erwartet wird er nach mehreren Weiterleitungen gefragt, in welchem Verhältnis er zu dem Patienten steht.
"Nein, wir sind nicht verwandt."
"Dann dürfen Sie nicht. Oder sind Sie...?"
Felix steht auf und geht aus dem Raum, bevor Niclas den weiteren Gesprächsverlauf mitbekommen kann.
"Ja, also, er ist mein Verlobter."

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