#49 Es zieht im Paradies

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Perspektive Felix Manuel Lobrecht 

"Moment. Erst steht noch die Abschlussuntersuchung an." hemmt eine Männerstimme meine Euphorie- wer von den beiden kann ich nicht sagen, da ich nur Tommi im Blick habe.
"Jaja." nicke ich unverzagt, wieder ihnen zugewandt.
"Aber anhand Ihres Erscheinungsbildes und allgemeinen Eindruckes sieht es sehr gut aus." kommentiert der Student halbherzig und lächelt bei seinem Blick auf meine Akte zufrieden.

Tommi scheint dafür, dass er sich bis gerade eben noch im Tiefschlaf befunden hat, verhältnismäßig schnell geschalten zu haben und beginnt zu strahlen.
"Geil!"
Sein Blick schweift unsicher zu den Ärzten, ziemlich plötzlich springt er von Freude zu Seriösität und fährt sich durch die zerstrubbelten Haare.
"Tut mir leid." 
Er räuspert sich kurz, bevor er fortfährt.
"Soll ich für einen Moment rausgehen?"

"Wenn Herr Lobrecht nichts dagegen hat, ist das nicht nötig." antwortet der erfahrene Arzt besonnen und schaut mich fragend an.
Selbstverständlich schüttele ich den Kopf und sage, dass er ruhig hier bleiben kann.
Insgeheim wünsche ich mir das sogar, da ich mich Medizinern gegenüber immernoch nicht sonderlich wohlfühle. Vor Allem, wenn ich keine direkte Unterstützung habe.

Zügig löst er sich von meinem Bett, steht auf und streicht sich die Klamotten gerade nach unten. Allerdings hilft es nicht viel, was wohl jeder im Raum sieht, aber unkommentiert lässt. Ich grinse nur unterschwellig, ohne innerlich zu bestreiten, dass er in jedem Zustand gut aussieht.

Wie im Voraus absehbar zeigt die Untersuchung keine weiteren Komplikationen. Die leichten Druckschmerzen beim Abtasten des Bauches seien normal und die Kopfschmerzen auch.
Mit einem Nicken des Arztes und meiner Unterschrift ist meine Entlassung besiegelt.
Beide verabschieden sich freundlich, aber in gewisser Eile und wünschen uns noch einen angenehmen Tag.
Das Grinsen des Studenten kann ich förmlich hören, den Gedanken scheine ich mit Tommi zu teilen:
"Ich glaube, der war Hacki." äußere ich meine Vermutung und er nickt. Ich setze mich auf.
"Oh man, was der jetzt wohl denkt." seufze ich und bin direkt beunruhigt, was unser öffentliches Image angeht. Fast hatte ich diese Sorge verbannt.
Wieder etwas von meiner Euphorie heruntergebracht fahre ich mir durch das Gesicht und schließe die Augen.
Brüderlich spüre ich eine warme Hand auf meinem Rücken, die mir ein Gefühl von Es-ist-alles-nicht-so-schlimm und Alles-wird-gut gibt.

Von einem Stück Glückseligkeit erfüllt öffne ich die Augen wieder und lächle Tommi an. 
"Jetzt zählt erstmal, dass du raus kannst. Alles weitere kommt später."
Seine Stimme beruhigt mich enorm.
"Danke, man." sage ich.
Sein Lächeln reicht.

Ich benötige einige Sekunden, um wieder auf ihn klarzukommen und die Fähigkeit zu sprechen wiederzuerlangen.
"Gib mir mal mein Handy, bitte. Ich schreibe gleich mal Julian."
So, dass Tommi es sieht, und es ist mir egal, dass als zuletzt gespieltes Lied "Tommi" von AnnenMayKantereit angezeigt wird, tue ich genau das.
Dass mir die Zeilen enorm viel bedeuten, lasse ich unkommentiert. Aber er hat es gesehen. Und er weiß es. Er kann es sich zumindest vorstellen.

Auf dem Weg zum Ausgang sticht mir eine große Orientierungstafel ins Auge. Flüchtig überfliege ich die einzelnen Abteilungsnamen, nicht alle kann ich zuordnen.
Vor allem aber die Worte "Hämatologie und Onkologie" mit dem indezenten Pfeil nach rechts öffnen eine ziemlich genaue Schublade. Zu genau. Und zu intensiv.
Zu intensiv sind die Kindheitserinnerungen an Münster, die sonst eigentlich immer nur sehr schwach und verschwommen sind.
Ich muss kurz schlucken und wage nur einen kleinen Blick in Richtung der großen Glastüren mit dem blauen Schriftzug.
Eine Gänsehaut ereilt mich.
Ich mag keine Krankenhäuser.

Ein nicht gerade angenehmer Kloß bildet sich in meinem Hals und mein Schritt verschnellert sich etwas.
Meine Hand zuckt nervös, als hätte sie ganz eigens das Bedürfnis entwickelt, die von Tommi zu nehmen und darin Halt zu finden.
Der rationale Teil in mir jedoch empfindet dies als unangenehm und unangebracht.
Natürlich siegt er und meine Hand bleibt leer und kalt.

Auch in Tommis Augen erkenne ich eine Art Sehnsucht nach draußen, als die großen grünen Türen in unser Blickfeld geraten.
"Draußen sieht viel schöner aus als hier drin." kommentiere ich, als ich mich fast melancholisch nochmal in der Eingangshalle umsehe.
Tommi nickt, gemeinsam übertreten wir die Schwelle- ein irgendwie theatralischer Moment.
Er zieht sich die Kapuze über den Kopf und kneift die Augen zusammen. Der heftige Wind verschiebt die Kapuze zur Seite.
"Es zieht im Paradies." scherzt er und ich muss lachen. Ein verschmitztes Lächeln schleicht sich auf seine Lippen. Weniger wegen seines Gags, mehr weil er mich zum Lachen bringen konnte.
Trotz des durchaus januarhaften Wetters freue ich mich und genieße es. 
Die kalte Winterluft durchströmt meine Lungen, es brennt leicht, bleibt aber angenehm.
Eigentlich würde ich jetzt erstmal eine rauchen. Das kann ich aber niemandem antun- weder mir, noch den Leuten um mich herum.
Zur Ablenkung werfe ich einen Blick zu Tommi- auch er scheint sich über die Frische zu freuen, welche sich gerade so an dem Punkt einpegelt, an dem es noch nicht zu schmerzhaft ist.

"Wo hast du geparkt?" frage ich fast unnötig, da wir uns bereits auf einem sehr direkten Weg befinden, den Tommi vorgibt.
Von Weitem erkenne ich sein Auto und es strahlt mich an. Es strahlt seine Energie aus. Und vor Allem Wärme, die ich trotz der angenehmen Luft draußen herbeisehne.

Noch nicht ganz fit und immernoch etwas wackelig fühle ich mich, als ich mit seiner Hilfe in Tommis Auto steige, er geduldig darauf wartet, dass ich es schaffe, mich anzuschnallen und dann die Tür schließt.
Sein zufriedenes Lächeln, während er um das Fahrzeug herum läuft, entgeht mir nicht.
Nur nebenbei fasse ich auf, wie er sich neben mich setzt und den Motor startet.
Ich glaube, vorher wirft er noch einen kurzen Blick auf mich.
Die Verarbeitung dessen beschränkt sich jedoch auf ein Minimum.

Meinen rechten Ellenbogen stelle ich auf dem Fensterrahmen ab und stütze dein Kopf auf meine Hand, beobachte das winterliche Treiben außerhalb, bis wir den Parkplatz verlassen.
Danach schließe ich die Augen, spüre die Kurven und Formen der Straße und wie wir über die Baerwaldbrücke fahren.
Ich weiß, dass wir bald da sind.
"Tommmiii, ick will was essen." ningele ich ungeduldig, als befänden wir uns auf einer mehrstündigen Fahrt und als sei ich vier.
Ich öffne meine Augen wieder und orientiere mich, indem ich aus den Fenstern rechts und vorne schaue.
Der Geschmack von frischen Nudeln erfüllt meinen Mund.
"Was ordentliches." füge ich hinzu, einfach in den Innenraum des Autos, ohne eine direkte Forderung äußern zu wollen.
Genauso wenig habe ich jedoch Lust, etwas zu kochen. Klassischer innerer Konflikt.
So wie ich mich kenne, werde ich nichts essen.

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