#81 Essen macht den Bagger auf

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Perspektive Felix Manuel Lobrecht

Ich bin unsicher.
Gewinne zwar gegen Tommi, bin aber trotzdem unsicher, tief in mir drin.
Nicht darin, dass wir nicht zusammenpassen oder dass ich nicht mit ihm zusammen sein will.
Es ist Selina.
Wir haben beide das Gefühl, sie vergessen zu müssen oder zu wollen.
Aber es fällt mir schwer. Und Tommi auch. Und solange ihn das noch belastet, bin ich die Gedanken an sie auch nicht los.
Ich will Tommi. Ich will den Tommi, der meine Bauchschmerzen wegzaubert und mein Kuscheltier zum Leben erweckt. Aber ich kenne jemanden, der ihn genauso will.
Ich will ihn. Und niemand anderes soll ihn bekommen.
Ich bin bereit, um ihn zu kämpfen, für ihn zu kämpfen, wenn er nicht mehr kann.

Ich schaue zu ihm hinüber, er hat den Controller vor sich auf den Tisch geschmettert.
4:1 zu verlieren tut ihm natürlich besonders weh.
Mein leichtes Lächeln drückt Zufriedenheit aus, ich beobachte ihn, mir fällt auf, wie elegant er gekleidet ist, obwohl wir zu Hause sind. Er trägt ein Hemd, einen grünen Pullover darüber und eine ockerfarbene Jeans.
Wahrscheinlich hat er nichts anderes im Schrank.
Ich selbst hatte heute Morgen einfach keine Lust, mir ein Oberteil anzuziehen. Das missfällt Tommi nicht.
Als sich unsere Blicke treffen, nachdem seiner wieder mit seinem Kopf an meiner Brust hängen geblieben ist, seine weichen, wuscheligem Haare an meiner Haut kitzeln und ich milde lächle, vibriert sein Handy.

Er nimmt und entsperrt es, ließt kurz etwas, überlegt, schaut mich dann an, tippt.
"Zieh dir was an, Max kommt vorbei." klärt er mich dann auf.
Ich brauche etwas, um zu schalten, bis mir einfällt, dass das sein Bruder ist.
Ich nicke und stehe auf, gehe ins Schlafzimmer, wo meine Tasche steht. Tommis Blick auf meiner Rückseite spüre ich dabei deutlich, ohne hinzusehen. Ich schmunzle.
Eigentlich hätte ich des Witzes wegen ein Hemd angezogen. Hätte mich in eines dieser oft unbequemen und eng sitzenden Stück Stoff gezwungen, um Tommi lachen zu sehen. Nur leider habe ich keins dabei.
Meine Entscheidung fällt auf ein schlichtes, weißes, wie ich finde ziemlich gut sitzendes T-Shirt.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkehre, ist mein Freund gerade dabei, aufzuräumen.
Mit einem knappen Blick mustert er mein neues Outfit und nickt es ab.

"Ich brauch 'nen Kuss kurz." sage ich und stelle mich provokant vor ihn, sodass er in seinem Gewusel fast nicht mehr vorbeikommt. Leicht genervt erfüllt er mir meinen Wunsch, ich halte ihn am Po fest und grinse. Trotz meiner geringeren Größe dominiere ich ihn. Tommi lässt den Kopf auf meine Schulter fallen, als mache er eine Pause, die er gar nicht will.
"Ich wusste gar nicht, dass es hier so unaufgeräumt ist. Kennst du das, wenn sich jemand zu Besuch ankündigt und dir auffällt, wie unordentlich es aussieht?" fragt er dann und seufzt.
Ich schüttele den Kopf. Die Leute, die mich besuchen kommen, kennen mich so gut, dass ich nicht extra aufräume. Vor allem nicht für meinen Bruder.
Was ich in diesem Moment aber enorm schätze, ist, dass es ihn nicht stört, dass ich sein "Chaos" sehe. Auch, wenn ich finde, dass es eigentlich ordentlich ist.

"Wann kommt er denn?" will ich wissen, als er seinen Kopf wieder hebt und mich ansieht.
"Keine Ahnung, er meinte, dass er noch was erledigen muss und dann losfährt. Er ist irgendwo hier in Köln."
Ich nicke.
"Soll ich dir helfen?"
Er nickt.
"Kannst du in der Küche aufräumen?" fragt er und ich frage mich, was da noch aufzuräumen ist. Aber ich stimme zu, streiche ihm noch einmal über den Hintern, stelle mich auf die Zehenspitzen und gebe ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. Danach verlasse ich sein "unordentliches Wohnzimmer".

Ein Lappen und ein paar Handgriffe tun die ganze Arbeit- zumindest aus meiner Sicht.
In der Hoffnung, dass das auch meinen Freund zufriedenstellt, warte ich noch etwas und gehe zurück, lehne mich gegen eine dunkelbraune, alte Kommode, die an der Wand steht und verschränke die Arme, beobachte ihn.
"Ey, komm, was willst du hier noch aufräumen? Es ist doch schon voll ordentlich." sage ich.
"Ich muss mal hier ran." erwidert er, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Leise seufzend und leicht genervt rutsche ich zur Seite und sehe, wie er eine Schere in einen Kasten legt, in dem Fäden liegen.
Er ignoriert mich weiterhin.

"Thomas?" setze ich dann wieder an, ernst. Diesmal schaut er mir in die Augen.
"Willst du es deinem Bruder sagen?" Die Frage brennt mir seit einer halben Stunde auf der Zunge.
Zu meiner Verwunderung zuckt er mit den Schultern, sieht auf einmal traurig und viel kleiner aus.
"Ich weiß es nicht. Irgendwie hab' ich Angst."
Er stützt sich mit dem Arm auf der Kommode ab, scheint sein Chaosproblem völlig zu vergessen.
Mein fragender Gesichtsausdruck reicht für ihn als Anregung, weiterzusprechen.
"Er ist auf keinen Fall homophob oder so, da bin ich mir sicher. Einer seiner besten Freunde ist schwul. Aber keine Ahnung, wie er reagiert, wenn er gesagt bekommt, dass sein eigener Bruder nicht mehr mit seiner langjährigen Freundin, sondern mit seinem Podcastkumpel zusammen ist."
Ich muss zwei Mal schlucken, nicke aber.

"Ach, komm, selbst wenn, muss er sich daran gewöhnen. Irgendwann muss er einsehen, dass es mit Selina vorbei ist und wie glücklich du bist."
Ich öffne meine Arme und lächle ihn an, Einsicht scheint sich zu zeigen. Wir umarmen uns und er entscheidet sich dazu, es ihm zu sagen.
"Aber nur, wenn es ranpasst. Soll nicht der erste Satz sein, den er hört. Und auch nicht zu beiläufig oder unterschwellig." legt er fest. Mir bleibt nichts anderes übrig, als dem zuzustimmen.
Er lässt seinen Kopf auf meine Schultern fallen und atmet tief ein.
Bitte weine jetzt nicht. Bloß nicht weinen.
Max könnte jeden Moment klingeln, dann wäre das unweigerlich das erste Thema. Und ich glaube, dafür ist er nicht bereit.

Nach einigen Sekunden, in denen ich über seinen Rücken streichle und wir zeitgleich tief ein- und ausatmen, hebt er seinen Kopf wieder, richtet sich auf und sieht mich an.
"Alles wird gut. Dein Bruder ist doch eigentlich cool drauf." versuche ich und schaffe es sogar, ihn zum Lächeln zu bringen. Überzeugt nickt er.
"Ist halt mein Bruder."
"Und er ist halt so wie du." sage ich lächelnd.
"Nicht, dass du dich in meinen großen Bruder verliebst." kontert er und lacht.
"Nee, ich will nur dich." gestehe ich und gebe ihm einen Kuss auf die Stirn.

Vielleicht sieben Minuten später klingelt es. Tommi scheint zufrieden mir dem Zustand seiner Wohnung. Noch kurz schaut er mich an, ich kann ihm die Aufregung am Gesicht ablesen.
Wir lächeln, er geht zur Tür. Ich halte mich im Hintergrund, während ich höre, dass er seinen Bruder herzlich begrüßt. Der Geräuschkulisse kann ich zuordnen, dass er sich nun Jacke und Schuhe auszieht und sie sich unterhalten.
Tommis "Felix ist übrigens auch da. Podcast. Comedian. Berlin." ist das indirekte Kommando für mich, in Max' Sichtfeld zu treten. Etwas schüchtern gehe ich in Richtung Flur und lächle.
"Hi." sage ich und bin mir erst unsicher, ob wir uns die Hand geben oder nicht. Max entscheidet, dass wir uns umarmen, wie Männer es tun. Halb fest, halb Handschlag. Er riecht gut.
"Moin. Haben wir uns schonmal gesehen? Glaube nicht, oder? Ich bin Max. Aber denke, das weißt du schon." sagt er und lockert damit die Stimmung enorm auf. Er hat eine ähnlich entspannende Art wie sein Bruder.

Wir setzen uns auf die Couch und finden direkt Themen zum Reden. Zocken, Jobs, Social Media, Internet. Max trinkt ein Bier.
Immer wieder sehen sich Tommi und ich an, spüren die gute Stimmung, tauschen Gedanken aus. Das Nicken bilde ich mir wahrscheinlich ein.
Irgendwann kommen wir auf das Thema Beziehungen, als Max erzählt, dass er kürzlich mit seiner Frau ein Grundstück Nähe Essen gekauft hat. Als er erzählt, welche Probleme es mit der Stadt gab, bereiten sich mein Freund und ich darauf vor, ihm zu unterbreiten, dass wir zusammen sind.
"Da hat Essen also ganz schön den Bagger aufgemacht." kommentiere ich, wir alle lachen.
Wie gescripted will er dann von Tommi etwas über seinen Beziehungsstatus wissen.
"Wo ist Selina eigentlich?"
Aua. Ich beiße mir auf die Unterlippe, vermeide es, meinen Freund anzuschauen.
"Äh, keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Wir sind nicht mehr zusammen." presst er hervor. Max nickt, nimmt einen Schluck aus seiner Bierflasche. In mir wächst die Unsicherheit, ob Tommi bereit ist.

Ich nehme einfach seine Hand. Ich weiß, dass er sich gerade nicht traut, es aber eigentlich will. Ich sehe mich in der Bestimmung dazu.
Max' Blick fällt verwundert auf unsere verschränkten Finger.
"Wir sind zusammen." lasse ich die Bombe platzen.
"Oh." sagt er. Ein weiterer, letzter Schluck Bier. Die Pause kommt mir unendlich lang vor.

Ich weiß, sie nervt euch ein bisschen. Deswegen werde ich Selina jetzt so gut es geht raushalten. Mindestens ein Mal wird sie noch Thema sein (vielleicht wisst ihr ja schon, wann), aber so oft wird sie nicht mehr auftauchen/ präsent sein.

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