#118 Bong ist gut wenn man arm ist

425 12 12
                                    

"Nee, so geht das nicht weiter." sagt Tommi und fährt sich durch die Haare. "Ich muss hier raus." fügt er flüchtig hinzu, ohne eine Antwort, einen Protest oder einen Gegenvorschlag abzuwarten. Entschlossen nimmt er seine Tasche und verlässt emotionslos den Raum. Felix hat nicht die Kraft, zu widersprechen, auch wenn er gerne alle möglichen Dinge schreien würde. Stattdessen lässt er sich einfach wieder in seine Ecke fallen. Er bekommt nicht mit, wie sich Tommi den Schlüssel für sein Auto nimmt und damit verschwindet.

Als der Comedyautor mit 200 Sachen über eine deutsche Autobahn brettert und Felix immer noch in seiner Ecke liegt, haben sie beide keine Ahnung, was ihr Ziel ist.
Felix existiert einfach und hofft, dass die Sekunden schneller vorbeigehen.
Tommi hält mit durchgetretenen Gaspedal auf seinen Vordermann zu. Wenn dieser ihm zu langsam ist, drängelt er und gibt Lichthupe. Es kann ihm gerade gar nicht zu schnell sein.
Beide sind sie sauer. Beide wissen nicht, wohin es für sie gehen soll.
Felix hat eh keine Aussicht, auf die er zusteuern kann.
Tommi sieht sich vor zwei Möglichkeiten gestellt: entweder fährt er nach Detmold oder nimmt die Kilometer extra nach Köln auf sich. Wobei er bei seiner momentanen Geschwindigkeit dafür gerade mal eine Stunde brauchen würde.
Felix streckt sein linkes Bein aus.

Vielleicht hätte er doch nicht überstürzt Felix' Auto nehmen und damit über die Autobahn brettern sollen, denkt sich Tommi, als auf einmal ein grelles Blitzlicht seine Netzhaut trifft. Scheiße. Der Brief geht an Felix' Adresse. Mit meinem Gesicht drin. Und das Bußgeld wird wohl auch von meinem Konto abgezogen werden.
Er sieht es jedoch auch nicht ein, den Fuß vom Pedal zu nehmen, der steht gerade so bequem. Immer noch bei voller Fahrt rechnet er sich aus, in welcher Höhe das Bußgeld wohl ungefähr ausfallen wird. Er kann sich dabei aber entweder nur auf die Straße oder nur auf die Kalkulation konzentrieren und fühlt sich wie der achtzehnjährige Tommi bei seinen ersten Fahrstunden, der neben lenken, schalten, blinken, abbiegen und Verkehr beobachten auch noch ausrechnen sollte, wie lang sein Anhalteweg nun wäre. Es funktioniert einfach nicht und ihm wird wieder einmal klar, dass er nicht multitaskingfähig ist.
Nach den nächsten 20 Kilometern, die für ihn innerhalb weniger Sekunden zurückgelegt sind, realisiert er, dass er sich in einer ähnlichen, scheinbar ausweglosen Situation befindet.

Felix sitzt immer noch an seinem Platz und es sieht nicht aus, als würde er sich für die folgenden Stunden davon wegbewegen. Das einzige, das sich an ihm noch rührt, sind einzelne Tränen, die seine Wangen wie einen Schwamm tränken. Das fühlt sich komisch an.
Tommi ballt die rechte Hand zu einer Faust.
Keine gute Idee, bei Kilometer pro Stunde in einer Karosserie aus Leichtmetall um sich herum auch nur einen Finger vom kontrollierenden Lenkrad zu lösen, denkt er, macht es aber trotzdem.
Felix hingegen denkt nichts. Oder zumindest nicht viel. Und vor allem nichts Neues.

Felix' Auftritt am Abend wird, wie vorhergesagt, scheiße. Jedoch ist er von sich selbst überrascht, dass er doch hingegangen ist.
Tommi schläft in seinem Auto auf den Autobahn-Parkplätzen Deutschlands.
Irgendwann findet er eine, an der es verlässliches WLAN und verlässlichen Strom gibt, da bleibt er ein Stück und freundet sich mit verschiedensten LKW-Fahrern an. Sie geben ihm Tipps und Tricks, eine Zahnbürste oder Kleingeld für die Duschen.
Wenn er nicht gerade mit einem seiner neu gewonnenen Kumpels eine Zigarette nach der anderen raucht, arbeitet er. Manchmal passiert auch beides gleichzeitig. Gleichzeitig wundert er sich, wie man so schnell Kettenraucher werden kann.

Felix sitzt noch oft, lang und viel auf seinem Boden. Irgendwie hat er die Perspektive zu schätzen und zu lieben gelernt. Von unten sieht ein Raum noch einmal ganz anders aus. Zum Glück hat er in seiner Ecke eine Steckdose, an der er sein Handy laden kann. Entweder schreibt er Tommi, dass er Bauchschmerzen hat oder scrollt bedeutungslos und roboterhaft durch Social Media oder lässt wahllose Videos laufen. Alle Auftritte, Termine und Treffen sind abgesagt, es kommen keine neuen zustande, weil Felix einfach niemandem schreibt. Wem soll er denn auch schreiben, wenn nicht Tommi? Der antwortet ja nicht einmal.

Tommi ignoriert ihn. Vielleicht absichtlich, vielleicht weil er sich in seine Arbeit stürzt. So genau weiß er das gar nicht. Während er sich einen überteuerten Kaffee nach dem anderen, mittlerweile hat er sich einen Freundschaftspreis ausgehandelt, hinunterkippt, sitzt er entweder quer auf der Rückbank von Felix' PKW oder im Innenraum der Raststätte und ist dankbar, dass er seinen Job digital von jedem Standort der Welt ausüben kann. Irgendwann, haben sie sich mal gedacht, wenn Felix das Bühnending leid ist, setzen sie sich nach Kuba ab und arbeiten von dort aus bequem am Laptop weiter.

Tommi beißt sich auf die Oberlippe, weil er einen dummen Tippfehler gemacht hat, den er verhältnismäßig spät erkennt und es so aufwändiger ist, ihn zu korrigieren. Er stöhnt genervt auf.
Felix beißt sich auf die Unterlippe, weil ein gleißender Stich seine Bauchregion bis hinauf zur Brust durchzieht und im Kopf Endet. Er stöhnt schmerzgequält auf.
Seine Handballen und sein Sitzfleisch sind mittlerweile wund vom vielen und ständigen harten Bodenkontakt. Manchmal hat er das Gefühl, auf etwas zu warten oder warten zu müssen, vielleicht sogar zu wollen, aber er weiß beim besten Willen auch nicht, worauf. Wenn er ehrlich zu sich sein soll, will er das auch gar nicht wissen, weil es eh keinen Sinn ergibt.

In Tommis Browser ist ganz hinten immer ein bestimmter Tab geöffnet: "Fernpsychologie Rater Hagen"
Ein überaus neues Konzept für ihn- zum Einen die Psychologie, zum Anderen als digitales Onlineangebot, ohne Termine auf verschleierten, tabuisierenden Visitenkarten, ohne stereotypisch eingerichtete Behandlungszimmer, ohne dem, was Tommi immer so vor Psychologen hat zurückschrecken lassen hat.
Aber noch konnte er es nicht über sein Herz bringen, die Praxis Rater anzurufen. "Fernpsychologie" klang für ihn zunächst einmal komisch, da es in seinem Kopf negativ mit Stichwörtern wie "Unprofessionalität", "Ferndiagnose", "Unseriösitat" und "Geldschneiderei" konnotiert ist. Außerdem war es ein Vorschlag von Felix, zur Therapie zu gehen und er weiß nicht, ob er diesem in dem Moment wirklich nachgehen will. Er zündet sich eine Zigarette an.

Auch in Felix' Leben ändert sich einiges radikal: er wird inaktiver, wenn nicht sogar passiv. Er nimmt an nichts mehr Teil. Nicht mal mehr an seiner Wohnung, seinen engsten Freunden, seinem Bruder oder an sich selbst. Sein letztes Treffen mit seinen Kumpels ist eine gefühlte Ewigkeit her. Um genau zu sein, ist es seit Tommi. Den weisen Aphorismus "Bong ist gut wenn man arm ist." hatte José immer geprägt, immer nach seinem ersten Zug, der richtig geballert hat. Ein Hauch von einem leisen Lächeln huscht über den Rand von Felix' Mundwinkeln, wird dann aber von dem logischen Gedanken an Tommi verdrängt. Dann hängt alles wieder. Nach unten.
Tommi legt das Kinn auf die Brust, um auf seinem Laptopdisplay besser die Zeilen lesen zu können, die er gerade getippt hat, um sie zu überprüfen. Die Sonne blendet, aber er ist zu faul, um den Winkel des Bildschirms zu korrigieren.

Ohne, dass er es steuern kann, öffnen seine Finger eine neue Notiz auf dem Gerät, mit dem er eh schon seit Stunden beschäftigt ist.

Ich will mit Tommi abends Sex haben, mit ihm einschlafen, mit ihm morgens Sex haben.
Ich will mit Felix auf einem beheizten Badezimmerboden hocken und es ist trotzdem schön.
Ich will mit Tommi kuscheln, eine Podcastfolge aufnehmen und dann wieder kuscheln.
Ich will mit Felix einen Hund ausführen. Dann lassen wir ihn von der Leine und laufen Hand in Hand einen Feldweg entlang, der Hund schnüffelt irgendwo rum.
Ich will mit Tommi irgendwo hinfahren und dann die ganze Nacht die Sterne beobachten.
Ich will mit ihm im Schnee spielen, Schneemänner bauen und Schneeballschlachten veranstalten, Schneeengel machen.
Ich will mit ihm tanzen, mit ihm Sport machen.
Ich will mit ihm im Park spazieren gehen, ohne zusammengeschlagen zu werden.
Ich will für ihn da sein, wenn er es braucht, will bei ihm sein, wenn es mir schlecht geht.
Ich will mit ihm mein Leben verbringen.

Tommi wählt die Nummer der Praxis Rater. Felix seufzt. Sie sind sich doch zu ähnlich, um nicht beieinander zu sein.

ich hoffe, euch gefällt das so besser ;) LG

Platzierte, verkopfte, elegalante Gemischtes Hack StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt