Höflichkeit und Anstand

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Nachdem ich seine Hände von den Ringen befreit habe,  sehe ich mir seine Finger genauer an. "Kannst du die normal bewegen?", frage ich ihn und sehe zu, wie er seine Hände zu Fäusten ballt und sie wieder öffnet. "Jup. Tut bisschen weh aber geht." "Hast du nicht nächsten Dienstag deinen Auftritt? Kannst du dann überhaupt Gitarre spielen?" "Klar das krieg ich hin. Bis dahin ist ja auch noch Zeit." Grinsend sieht er zu mir herunter. Mit meinen 1,65m, bin ich um Einiges kleiner als er. "Machst du dir etwa Sorgen um mich, Cherry?" Ich verdrehe die Augen. "Nein tu ich nicht. Und hör auf mich so zu nennen." Er hebt seine Hand und als seine Fingerspitzen sanft meine Wange berühren, zucke ich kurz zusammen. "Auf gar keinen Fall. Ich dachte du magst Cherry bomb? Außerdem passt der Name zu deinen roten Haaren.", sagt er lächelnd während er mir eine rote Haarsträhne hinters Ohr streicht. "Ich mag den Song ja auch, aber deswegen musst du mich nicht so nennen." Seine dunkelbraunen Augen schauen mir direkt in meine und ich halte unwillkürlich den Atem an, als er mir einen Schritt näher kommt.

Für einen Moment verliere ich mich in seinen dunklen Augen und finde erst wieder heraus, als mir bewusst wird, was hier eigentlich gerade passiert. Ich stehe hier mit Eddie dem 'Freak' in der Mädchentoilette und wir schauen uns ein wenig zu lange in die Augen. Was würde Chad jetzt dazu sagen? Was würde Chrissy sagen? Das hier ist falsch. Ich sollte mich nicht mit Eddie anfreunden. Ich bin doch jetzt bei den 'Beliebten'. Was würden die Leute sagen, wenn sie mich mit Eddie sehen würden? Meinen Platz bei den 'Coolen' könnte ich dann sicher vergessen. Aber wieso find ich Eddie auf einmal so viel cooler? Trotzdem. Das hier ist nicht richtig.

 Ich räuspere mich und trete einen Schritt von ihm zurück. Er sieht mich verwundert an. "Hör zu Eddie...", beginne ich schließlich, doch das ist schwieriger, als ich dachte. "Ich...ähm...ich bin dir wirklich dankbar, dass du mir gestern geholfen hast bei der Sache mit Higgens, aber ich...ich glaube nicht, dass es gut wäre wenn wir uns weiterhin treffen." Er legt seinen Kopf schief und seine Stirn in Falten. "Wer sagt das?" Ich öffne meinen Mund um "Ich" zu antworten, doch er unterbricht mich. "Nein, warte. Ich weiß schon wer. Dein toller Freund Chad und sein Kumpel Jason haben dich sicher vor mir gewarnt, hm?" Ich entgegne nichts, weil ich weiß, dass es wahr ist. "Sie haben dir sicher gesagt, was für ein 'Freak' ich sei und dass du dich vor meinem Satanismus in Acht nehmen sollst. Stimmt's?" Ich senke meinen Blick. Er hat natürlich Recht.

 Auf einmal komme ich mir so beschämt vor. Ich sollte Eddie nicht danach beurteilen, wie die anderen über ihn reden. Aber ich hab so lange gebraucht, bis ich endlich von den Anderen akzeptiert wurde. Ich kann das doch jetzt nicht alles wieder zu Nichte machen, oder? "Hm.", macht er seufzend und ich bekomme sofort ein schlechtes Gewissen. Ich hebe den Blick wieder um zu ihm auf zu sehen. Seine Lippen sind aufeinander gepresst. "Ich dachte irgendwie, du wärst anders. Vielleicht hab ich mich gestern geirrt. Du hast dich doch verändert, Jackie." Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Eine Entschuldigung kommt mir irgendwie nicht richtig vor. Sie würde nur gezwungen und falsch rüber kommen. Also antworte ich nichts darauf. Eine Weile stehen wir einfach nur so da, bis ich die Stille schließlich wieder breche. "Ich...ich muss jetzt los. Ich hab Unterricht.", erkläre ich leise und greife nach meiner Tasche. Ich sehe noch einmal zu ihm auf, doch er starrt nur zu Boden. Mir fällt nichts mehr ein, was ich sagen könnte, um die Situation irgendwie wieder zu retten, also gehe ich seufzend an ihm vorbei und lasse ihn alleine. Wahrscheinlich ist es besser so. 

"Wieso warst du denn so spät beim Kunstunterricht?", fragt Chrissy mich als wir zusammen das Zimmer verlassen. "Ach ich ähm...musste noch was mit Chad klären.", lüge ich hastig und hoffe, dass sie sich damit zufrieden gibt. "Hey, willst du noch mit zu mir kommen, für den Physik Test morgen lernen?", frage ich sie um schnell das Thema zu wechseln. "Ach nein. Weißt du, ich gehe lieber nach Hause. Ich hab zur Zeit irgendwie ständig diese Kopfschmerzen. Ich werd mich zuhause wohl ein bisschen hinlegen." "Oh, geht klar. Es ist besser wenn du dich erst mal ausruhst.", entgegne ich verständnisvoll.

"Na dann bis morgen.", verabschiedet sich Chrissy vor der Schule von mir und läuft nach Hause. "Ja bis morgen!", rufe ich ihr noch hinterher. Als ich gerade die Treppen hinunter laufe, sehe ich an der Wand des Schulgebäudes ein Plakat, was Werbung für ein Konzert von den Runaways macht. Das Datum ist der kommende Freitag und Tickets gibt's im Musikladen. Doch die Karten, werde ich mir wohl nie leisten können. Und meine Eltern werden mir die auf keinen Fall bezahlen. Sie denken alle Rock-Musiker wären Satanisten und seien gefährlich. Da fällt mir ein, dass ich  ja immer noch ein Wiedergutmachungsdate bei Chad übrig habe. Ich glaube zwar nicht, dass er darauf so wirklich Lust hat, aber er meinte er würde alles tun, um sein Verhalten wieder gut zu machen. 

"Die Runaways, hm?", fragt plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich herum. "Gehst du hin?". fragt Eddie mich und deutet auf das Plakat. Ich zucke mit den Schultern. "Wenn's noch Tickets gibt.", antworte ich. "Und du?" "Hm, ne. Hab kein Geld für sowas.", erklärt er und ich kann ihm dabei ansehen, wie sehr er sich darauf gefreut hätte. "Wie war der Kunstunterricht?", fragt er mich neugierig, doch ich seufze nur. "Eddie, ich hab dir doch gesagt, dass-", er unterbricht mich. "Glaubst du das auch?" Die Frage ist so ohne Zusammenhang, dass ich nicht verstehe, was er von mir will. Ich sehe ihn verwirrt an. "Was?" Er sieht mich ernst an. "Glaubst du das auch? Was deine 'Freunde' über mich erzählen? Dass ich ein Satanismus betreibender Freak bin, vor dem man sich in Acht nehmen sollte? Dass ich gefährlich bin?" Was ist das denn bitte für eine Frage? Und noch viel wichtiger, was soll ich bitte darauf antworten? "Ich...ähm...", druckse ich herum. "Ein einfaches Ja oder Nein, reicht schon." Was will der bloß von mir? Wieso fragt er mich sowas? Was will der denn bitte damit bezwecken? Dass ich zugebe, dass ich ihn doch irgendwo mag. Dass ich zugebe, dass ich das Gerede von Chad und Jason für völligen Schwachsinn halte? Tue ich das denn? Ja. Ich glaube schon. Ich meine, Chrissy hat schon Recht: Ich kenne Eddie nicht so gut. Aber trotzdem...ich glaube nicht, dass ein Mensch, der so nett zu mir war, gefährlich sein könnte. 

"Hm?", macht Eddie ungeduldig und sieht mich abwartend an. Ich seufze und schüttele schließlich ganz langsam den Kopf. "Nein." Ich sehe zu ihm auf. "Nein das tue ich nicht. Ich glaube nicht, dass du gefährlich bist, Eddie." Auf einmal werden seine Gesichtszüge wieder sanfter und ich glaube sogar zu sehen, wie sein rechter Mundwinkel für den Bruchteil einer Sekunde nach oben zuckt. "Gut. Dann lass uns gehen.", entgegnet er plötzlich gut gelaunt und nimmt mir unvermittelt meine Schultasche ab. "Hey, was wird das?", frage ich verblüfft und laufe neben ihm her. "Na wonach siehts denn aus? Ich werd dich nach Hause fahren."

"Eddie, ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist. Chad ist sowieso schon eifersüchtig weil-" "Ach Chad muss doch nichts davon wissen. Oder noch besser. Mach einfach Schluss mit ihm. Er hat dich sowieso nicht verdient." "Das werde ich nicht tun." "Wieso nicht?", fragend sieht er mich an. "Na weil ich...er...Gib mir einfach meine Tasche wieder, okay?" Ich versuche nach der Tasche zu greifen, doch er hebt seinen Arm, sodass ich nicht mehr an sie heran komme. "Nope. Du kriegst sie wieder, wenn ich dich nach Hause fahren darf." "Das ist Erpressung.", beschwere ich mich. "Nein das ist Höflichkeit und Anstand. Es gehört sich eben eine Lady nach Hause zu fahren." "Ich kann alleine nach Hause gehen. Dafür brauche ich keinen Jungen." "Ja das weiß ich doch, aber ich werd dich trotzdem fahren." "Aber Eddie ich-" "Nichts aber."

Cherry (Eddie Munson ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt