Aber vielleicht im Tod

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*Drei Tage später*

Es ist Samstag. Eine Stunde vor um 8. Ich liege im Bett und starre an die Decke über mir, wie ich es den ganzen Tag schon mache. Die Matratze unter mir ist hart wie Stein und die Gardinen vor dem Fenster sehen aus, als wären sie aus dem letzten Jahrhundert. Außerdem riecht es in dem gesamten Haus irgendwie muffig. Aber so roch es hier schon immer und ich schätze so riecht es auch bei jeden anderen Großeltern.

Seit gestern sind wir jetzt hier bei Grandma und Grandpa. Als das Haus unserer Nachbarn in Hawkins vollständig vom Erdboden verschluckt wurde, haben meine Eltern keinen Augenblick gezögert. Sie haben alle wichtigen Sachen zusammen gepackt  und Hawkins mit mir im Schlepptau verlassen. Sie haben nicht einmal gefragt, wo ich die ganze Zeit war. Und ich hab ihnen nichts gesagt. Sie würden es eh nicht verstehen. Stattdessen hab ich mich dagegen gewehrt Hawkins mit ihnen zu verlassen. Ich habe vorgeschlagen mit bei Steve zu bleiben, doch meine Eltern haben mir gar nicht erst zugehört. 

Und jetzt sind wir hier: in dem muffig riechendem Haus von Mums Eltern. Mein Blick gleitet von der Decke über mir, zu der frischen Bettwäsche, die Grandma mir hingelegt hat. Sie ist rot. Ein dunkles Rot, was mich sofort an Dinge erinnern lässt, an die ich eigentlich nie wieder denken will. Ein Bild blitzt vor meinem inneren Auge auf. Blut. Meine Hände sind voller Blut und unter mir sein Körper, der ebenfalls voller Blut ist. Seine dunklen Augen, die nicht mehr so lebendig funkeln wie sonst, sondern die einfach nur leblos ins Leere starren. Ich schließe meine Augen und schüttele mit dem Kopf, wie um die Erinnerung los zu werden.

Es ist kurz vor um acht. Mum und Dad sind mit meinen Großeltern noch ein paar Sachen erledigen gefahren. Außerdem wollten sie sich mit ein paar Freunden aus Hawkins treffen um über die Ereignisse zu reden. Ich bin also alleine im Haus und als die große Wanduhr im Wohnzimmer läutet, zucke ich erschrocken zusammen. Ich schätze das ist für alte Leute normal, eine viel zu laute Uhr zu besitzen, die zu jeder vollen Stunde ein ohrenbetäubendes Geräusch von sich gibt. 

Als das Läuten immer noch nicht aufgehört hat, stehe ich genervt auf und stapfe die Treppen hinunter ins Wohnzimmer. Als ich vor der Uhr stehe, suche ich nach einer Art Stecker. Doch die Uhr ist so alt, dass sie keinen besitzt. Ich habe keine Ahnung wie solche Uhren überhaupt funktionieren, weshalb ich mich vergeblich nach einer Möglichkeit um sie auszuschalten umsehe. Doch ich finde nichts. Da hört sie plötzlich von alleine auf zu läuten. "Na endlich.", sage ich genervt zu mir selbst und will gerade wieder zurück in mein Zimmer gehen, da klingelt es plötzlich an der Tür.

Erschrocken zucke ich zusammen. Ich schaue auf meine Armbanduhr. Die Wanduhr geht 5 Minuten vor. Jetzt ist es erst genau um acht. Ich weiß nicht wieso aber eine gewisse Hoffnung macht sich in mir breit. Mein Herz schlägt schneller, als ich mich langsam der Tür nähere. Ich lege meine Hand vorsichtig auf die Türklinke und drücke sie herunter während ich die Luft anhalte.

"Hey, Schatz. Tut mir Leid, falls du schon geschlafen hast. Wir haben den Schlüssel vergessen.", erklärt meine Mum und zwängt sich mit zwei Einkaufsbeuteln an mir vorbei ins Haus. Meine Hoffnung verfliegt sofort und die Trauer macht sich wieder breit. "Ach ist schon gut. Ich kann sowieso nicht schlafen.", meine ich nur monoton und mache Platz für Dad und meine Großeltern.

Ich sehe kurz raus in die Dunkelheit und hoffe ihn irgendwo da zu sehen. Ich hoffe den Motor seines Autos zu hören und zu sehen wie er aussteigt und mich verschmitzt angrinst. Doch da ist Nichts. Nur die Dunkelheit und eisige Kälte, die mir in die Kleidung fährt und meinen Rücken hinauf klettert.

Ich gehe in mein Zimmer um mir eine Jacke zu holen, da fällt mein Blick auf die schwarze Lederjacke. Ich hab vergessen sie Eddie wieder zu geben. Und jetzt ist es zu spät dafür. Ich nehme sie und ziehe sie mir über. Sie riecht noch nach ihm, und ich atme begierig den Duft ein. 

Ohne zu zögern ziehe ich sie mir über, verlasse erneut das Zimmer und horche in die Wohnung hinein. Ich höre wie unten im Wohnzimmer der Fernseher läuft und wie meine Eltern ab und zu etwas zueinander sagen, doch ich kann nicht verstehen was. Leise versuche ich mich die Treppen hinunter zu schleichen und überspringe dabei bewusst die vorletzte Stufe, das ich weiß, dass diese immer knarzt, wenn man auf sie tritt. Mit langsamen Schritten schlüpfe ich durch die Haustür nach draußen und schließe vorsichtig die Tür hinter mir. Meine Eltern würden es mir niemals erlauben, einen nächtlichen Spaziergang zu unternehmen, bei all den Dingen, die gerade vorgehen. 

...

Während ich durch die mir fremden Straßen laufe, sehe ich mich immer wieder um. Ich weiß nicht genau, was ich mir erhoffe zu finden, doch außer einer schwarzen Katze und ein paar Mäusen habe ich nichts gesehen. Unwissend wo ich hinlaufe, biege ich einfach rechts ab. Mir ist egal wo ich hinlaufe oder wo der Weg hinführt. Wahrscheinlich werde ich erst spät wiederkommen. Wahrscheinlich werde ich Ärger von Mum bekommen, wenn sie herausfindet, dass ich mich raus geschlichen habe. Doch das ist mir egal.

Vielleicht werde ich mich sogar verlaufen. Wen interessierts? Vielleicht stolpere ich auch über meine eigenen Füße und schlage mir den Kopf am Bordstein auf. Ist alles egal. Vermutlich wäre es so sogar besser. Wenn ich einfach nicht mehr hier wäre. Wenn ich einfach nicht mehr existieren würde.  Ich bin nicht religiös und auch nicht besonders  spirituell. Ich glaube weder an einen Gott noch an den Himmel oder die Hölle. Ich weiß nicht was nach dem Tod passiert. Aber vielleicht werde ich ihn dort wiedersehen. Die Chance ist jedenfalls größer, als wenn ich hier bleibe. Wenn ich weiter lebe. Eddie ist tot. Genauso wie Chrissy. Im Leben werde ich die beiden nicht mehr wieder sehen. Aber vielleicht im Tod.

...

Ich achte nicht auf den Weg und ich merke auch nicht, wie weit ich schon von unserem Haus entfernt bin. Es ist mir egal. Das Einzige was für mich gezählt hat, was mir wirklich wichtig war ist weg. Der Boden unter meinen Füßen verändert sich plötzlich. Statt auf harten Beton, treffen sie nun auf Holz und ich gelange auf eine Art Steg. Ich hebe den Blick und sehe einen dunklen See vor mir liegen. Unweigerlich erinnert er mich an den Lovers Lake. Und an den Tag, als Eddie mich mit zum Baden nahm. Als er mich ins Wasser geschubst hatte und mir dann sein Shirt geliehen hat. Das Shirt was ich gerade an habe. Ich hab es vor drei Tagen angezogen und danach nicht mehr ausgezogen. Ich schmiege mein Gesicht an den weichen Stoff und schließe die Augen. Es ist fast, wie an diesem Tag am Lovers Lake. Nur er fehlt.

Ich stehe so nahe am Ende des Stegs, dass wenn ich noch einen Schritt machen würde, ins eiskalte Wasser fallen würde. Im Dunkeln kann man sich nur schlecht orientieren, wo unter oder über Wasser ist. Die Kälte würde meinen Körper außerdem schwächen und die schweren Klamotten die ich anhabe würden mein Auftauchen noch mehr erschweren. Vermutlich würde ich es nicht mehr schaffen über Wasser zu gelangen.

Ohne, dass ich es merke macht mein linker Fuß einen kleinen Schritt nach vorne und der Rechte folgt ihm. Nur noch meine Fersen stehen nun auf dem Steg und die Fußspitzen schweben in der Luft. Ich schließe die Augen und atme einmal tief ein und wieder aus.

Cherry (Eddie Munson ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt