64~ Clara

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Sie sitzen sich gegenüber und schauen nur. Mustern ihren Gesichter. Das geht jetzt zehn Minuten so. Keiner entschließt sich auch nur ein Wort zu sagen.

Sie waren Freundinnen zu zeiten, in denen sie es sehr schwer hatten. ,,Ich habe gehört, dass das Internat geschlossen werden soll. Sie gehen jedenfalls dagegen vor." sagt Clara als erste. Yamila nickt.

,,Hast du was damit zu tun?" fragt sie mit der rauen Stimme die sie vom Rauchen hat. ,,Mein Vater hat alles erfahren und will den Laden schließen." Clara lacht, wobei ihr Zungenpircing sichtbar wird. Generell hat sie viele von denen. Eins an der Augenbraue, eins in der Zunge, eins in der Nase. Vorhin hatte sie eins am Bauchnabel gesehen und viele Tattoos hat sie auch.

,,Du hast dich verändert." sagt Yamila und muss ehrlich zugeben, dass es Clara gut steht. Im Internat trugen alle das gleiche, hatten alle die selbe Frisur und bewegten sich alle gleich.

,,Haben wir das nicht alle?" sagte sie und zündet sich eine Zigarette an. Pinke Strähnen leuchten unter ihren dunklen Haaren auf. ,,Ja, stimmt."

Die Barista stellt ihnen zwei Kaffes auf den Tisch und geht dann gleich wieder rein. Sofort umschließt Yamila die Tasse mit ihren Händen. ,,Du bist so ruhig. Damals warst du nicht so." Yamila lächelt.

,,Ja. Sie haben mich ja auch dazu gebracht so zu sein. Aber sieh dich an. Du hast Tattoos und Pircings. Und pinke Haare." Clara lacht. ,,Ja, was meinst du wieso meine so perfekten Eltern mich in die Hölle geschickt haben? Ich habe angefangen so auszusehen und wurde dann auch noch schwanger."

Yamila schüttelt leicht den Kopf. Sie durften nie darüber reden, weshalb sie dort hingeschickt wurden. Jedem ist es verboten darüber zu reden, was sie hier her brachte. Jedes Mädchen ist unerzogen und misraten. Niemand ist besser und schlechter. Alle werden gleich bestraft. Das war eine der obersten Regeln.

,,Meine Zwillingsschwester hat mit unserem Lehrer geschlafen und ich habe die Schuld auf mich genommen. Ebenso wie alle Partys die sie geschmissen hatte. Das war dann meinem Vater zu viel."

Clara lacht. Auch das hatte sich verändert. Menschen die sie nicht kennen und auch nicht wissen, was die Mädchen durchgemacht haben, würdest es nicht erkennen. Sie würden nicht erkennen, dass sie vorsichtiger lachen. Nicht laut lachen. Mit einem gewissen Unterton lachen. Einfach nur, weil sie es nicht anders durften. Wenn sie überhaupt lachen durften.

,,Wieso hast du das getan?" ja, wieso eigentlich? ,,Ich habe geschworen auf sie aufzupassen. Sie ist so hilflos gewesen und war Dads Liebling. Mein Dad hatte mich noch nie so richtig gern. Und nach dem tot meines Bruders und dem verschwinden meiner Mutter, habe ich die Rollen übernommen. Ich war die Mom bei Fragen. Die, die ihr einen Rat gab und sich mit Dad angelegt hat. Ich war der Bruder beim beschützen. Die, die sich mit gemeinen Mädchen in der Schule herumgeschlagen hat und auf sie aufpasste. Ich hätte ja nie erwartet, dass mir so etwas passieren könnte wie im Internat."

Clara hörte aufmerksam zu. ,,Ach scheiße Yamila. Und ich dachte meine Familie hat nen Schaden. Mit dir will man echt nicht tauschen."beide beginnen zu lachen.

,,Was hatte es eigentlich damals auf sich, dass du so oft Einzeltheraspie hattest?" Yamila schaut weg. Sie hasst es, anderen davon zu erzählen. Von ihren Problemen zu erzählen. Sie nimmt ein großen schluck von ihrem Kaffee. ,,Ich wurde vergewaltigt und mich konnte niemand mehr berühren. Bis vor kurzem." Farbe entweicht Clara aus ihrem Gesicht.

,,Mein Gott süße. Dein Leben ist ja scheiße." schnell schüttelt Yamila den Kopf. ,,Nein, so schlimm ist es gar nicht. Mein Vater hat nun zugehört und weiß jetzt über alles bescheid. Meine Schwester macht einen Entzug durch. Ich habe einen schönen Job, eine tolle Wohnung und einen Freund."

,,Ein Freund also? Wie heißt er und wie sieht er aus?!" neugierig setzt Clara etwas näher an den Tisch und beobachtet Yamila, wie sie ihr Handy nimmt und es entsperrt. ,,Er heißt Ryan." sie dreht das Handy zu Clara und zeigt ihr ein Bild von Ryan.

,,Wow! Himmel noch mal!" ohne zu fragen schnappt sie sich Yamilas Handy und zoomt an das Bild heran. ,,Verdammt Yamila! Wie hast du den denn abbekommen?" erst als sie merkt wie das klang, sieht sie in ihre Augen. ,,Sorry, klang blöd so wie ich das sagte. Aber Mädchen wie wir... Mädchen, mit so einem Schaden bekommen für gewöhnlich selten überhaupt einen Mann ab. Und verdammt ist der heiß..."

,,Ich hätte mich nie auf ihn eingelassen, hätten wir nicht eine lange Vorgeschichte. Wir waren schon mal zusammen, da war ich 16. Er war der beste Freund meines Bruders." mit einem verschmitzen Blick wackelt Clara die Augenbrauen.

,,Uhlala... Jetzt will ich doch Leben tauschen." es ist verrückt, dass die beiden so wenig voneinander wissen, obwohl sie über Monate in einem Zimmer schliefen, gemeinsam aßen, gemeinsam ihre Aufgaben erledigten. Sie haben sich immer schon gut verstanden nur durften sie niemals auch nur auf die Idee kommen, persönliches von sich preis zu geben.

Abstand zu Menschen zu halten ist gut. Abstand von Menschen zu halten, verhindert unzüchtiges Verhalten, ungewollte Schwangerschaften, anstellen von Dingen, die sich für Mädchen wie euch nicht gehören. Das hörten sie jeden Tag durch einen Lautsprecher während sie sich wuschen und anzogen.

,,Jetzt genug von mir. Du hast ein Baby?" Clara schüttelt den Kopf. ,,Nein. Also, ja. Aber ich gab es zur Adoption frei. Ich wollte nicht, dass mein Kind jemals in meiner Familie aufwächst. Mir war bewusst, dass ich sobald ich die finanziellen Mittel hatte, mich von den Teufelsmenschen fern halten werde. Ich konnte der kleinen doch auch sowieso nichts bieten und der Vater, blödes Arschloch, wollte nichts von alle dem wissen." redet Clara schnell, so wie sie es schon immer tat und oft zurechtgewiesen wurde.

,,Jetzt ist meine kleine Hope bei einer sehr netten Familie, die mir ab und an ein Bild zuschicken. Sie ist glücklich und gesund. Wenn sie älter ist und mich kennenlernen will, werde ich da sein und ihr alles erklären." eine kleine Träne rollt ihr die Wange runter.

,,Das freut mich zu hören, dass es ihr da gut geht wo sie jetzt ist. Hast du ein Bild von ihr?" Clara holt ihr Portemonnaie aus der Tasche und zieht anschließend ein Foto raus.

Drauf ist ein kleines Mädchen mit Schultüte zu sehen. Braunes Haar, blaue Augen und ein breites Lächeln. Alles an ihr ist pink und schreit nach Fröhlichkeit. ,,Sie ist dir sehr ähnlich." Clara nickt.

,,Ja, das ist sie." Yamila denkt nach, ob sie eigentlich jemals Kinder will. Oder ob Ryan jemals Kinder will. Das hatten sie bisher noch nie besprochen. Damals war sie zu jung, dann zu kaputt. Aber jetzt auf dem weg der Besserung?

Nachdem sie noch lange geredet haben, haben sie ihre Nummern ausgetauscht und beschlossen, mehr im Kontakt zu sein. Jemanden zu treffen, der das selbe durchgemacht hat wie einer selbst tut gut. Man versteht die Zurückhaltung des anderen. Man versteht es, wenn jemand zuckt sobald man sich ruckartig schnell bewegt. Man versteht, wie kaputt der andere ist.

Love me touchlessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt