61~ Mitleid

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Da ist sie wieder und sitzt, sie wie beim letzten mal, auf dem bequemen Sofa und schaut ihren gegenüber an. Sie ist angespannt und fühlt sich sichtlich unwohl. Seit zehn Minuten ist sie hier und hat nur Höflichkeiten mit dem Psychologen Dr Michels getauscht. Er sieht sie an und schreibt etwas in das iPad. Sie runzelt die Stirn. ,,Ich habe doch nichts gesagt, was haben Sie sich aufgeschrieben?"

,,Die Körpersprache sagt viel, auch, wenn Sie gerade nichts sagen." interessiert schaut sie ihm in die Augen und fragt dann: ,,Und was sagt meine Körpersprache gerade?" seine Mundwinkel zucken auf. ,,Sie haben angst, fühlen sich unwohl und die Stille beklemmt Sie. Sie haben es nicht gern mit mir alleine zu sein, was ich aus ihrer Vergangenheit schließe. Als meine Empfangsdame kurz hinein kam und Wasser brachte haben Sie sich für einen Moment entspannt, also liegt es an meinem Geschlecht. Interessant ist, dass sie nicht gern mit Männern alleine sind, doch bei Ryan keine Probleme damit haben. Woran liegt das?" sie zuckt mit den Schultern.

Seine Einschätzung über ihren Momentanen zustand sind alle richtig und sie ist fasziniert von seiner Beobachtungsgabe. Er hat recht, alleine mit ihm fühlt sie sich unwohl. Seine Aufmerksamkeit schnürt ihr beinahe die Luft ab und sein Blick der sie eindringlich ansieht hinterlässt ein unangenehmes brennen auf ihrer so kaputten Seele. Sie will am liebsten aufstehen und rennen. Ganz weit weg. Aber sie hatte versprochen nicht wegzulaufen.

,,Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl von ihm beschützt zu werden. Ich denke, wenn er da ist, dann prallt alles von mir ab." wieder schreibt er etwas auf und sieht sie dann wieder an um die nächste frage zu stellen. ,,Empfinden Sie das als eine Art Abhängigkeit?" einen Moment der Stille. ,,Kann sein. Aber ist das denn so verwerflich, wenn ich mich von ihm abhängig mache? Ich meine, ich wurde bisher von allen verlassen und verletzt. Ist es da so schrecklich, wenn ich mich an das momentan einzig Gute in meinem Leben klammere?" Dr Michels nimmt ein schluck von seinem Wasser und merkt, wie sie zusammen gezuckt ist als er sich zum Glas bewegte.

,,Was aber ist, wenn er Sie auch wieder verletzt? Wenn er Sie noch mal belügt?" daran will sie nicht denken. Denn, was wäre dann? Wen hatte sie dann noch? Ein toter Bruder, eine süchtige Schwester, eine verlorene Mutter und ein sie verachtender Vater. Niemanden hat sie dann. Sie ist ganz alleine. Ist sie noch. Ryan hält sie von seinem Leben so fern wie nur möglich. Sie weiß wie gefährlich sein leben ist und das er mit Krummen Dingen zu tun hat. Das einzige was sie hat ist die Hoffnung an seine Liebe zu ihr.

,,Das wird er nicht." ,,Und wenn doch?" ,,Dann bin ich alleine, wieder. Und ich werde stark sein, wieder. Und ich werde kämpfen, wieder. So lange, bis ich nicht mehr kann und aufgebe." Dr Michels nickt und schaut sie liebevoll an. ,,Sie sind stark. Sie können alles schaffen was Sie sich vornehmen. Sie sind eine Kämpferin. Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen, denn das haben Sie sicher schon all zu oft gehört. Doch auch starke Menschen brauchen ab und an Hilfe. Öffnen Sie sich mir, Yamila. Nur so kann ich dafür sorgen, dass Sie nicht aufgeben müssen. Sie müssen sich nicht an Ryan klammern, denn Sie sind die Person die sich am meisten Lieben sollte und nur Sie können sich die kraft geben weiter zu machen. Ja, seine Liebe zu Ihnen mag echt sein und Sie vielleicht motivieren, doch sind Sie es schlussendlich, die entscheidet." ja, er hat recht. im großen und ganzen hat er recht. Aber was sagt das über ihn aus?

,,Wenn Sie sowas sagen, dann denke ich, dass Sie selbst sehr allein sind. Ich kenne dieses Gefühl wenn man nur sich hat und sich auf niemanden verlassen kann. Ich selbst war einst so. Man hat einfach keine andere Wahl als sich nur auf sich zu verlassen. Aber wenn da jemand ist der einen halten kann wenn es einem zu viel wird, der einen aufbaut und dafür sorgt, dass man weiter machen muss, dann ist das Leben einfacher. Es geht mir nicht darum einfach jemanden zu haben um mir die Entscheidung abzunehmen wie viel ich noch bewältigen kann. Es geht mir darum, dass ich meine Ängste und Träume und Bedürfnisse mit jemandem teilen kann, der mich versteht. Ryan kennt mich, so wie kein anderer. Er sieht mich und meine Wunden und versteht wie ich empfinde. Er kann es nicht nachempfinden, dass kann niemand der sowas nicht erlebt hat aber er hört mir zu und hilft mir, mich Stück für Stück aufzubauen." Dr Michels lächelt.

Das er hier mal des besseren belehrt wird hatte er selbst auch noch nicht. ,,Gut, wechseln wir das Thema. Reden wir über Ihren Bruder." sofort unterbricht sie ihn, bevor er auch nur eine frage stellen kann. ,,Nein." wieder notiert er sich etwas. ,,Yamila, wir müssen darüber reden." sie schüttelt den Kopf. ,,Nein. Ich bin hier um über meine Vergewaltigung zu reden und über die Ereignisse im Internat. Mein Bruder war nie teil der Therapie." wieder notiert sich Dr Michels etwas und legt dann das iPad beiseite.

,,Yamila, der Tod ihres Bruders ist ein prägendes Ereignis in Ihrem Leben gewesen. Wenn Sie jetzt noch nicht darüber bereit sind zu reden ist das okay, aber irgendwann müssen wir uns darüber unterhalten." sie nickt einfach nur um seinen Pitbullartigen Biss den sie in ihrem Nacken spüren kann los zu werden. Natürlich ist die Diskussion noch nicht beendet, das weiß er, aber ist das nun mal sein Job. Er ist hier um ihr zu helfen. Und sie wird reden, das tun sie immer.

,,Dann lassen Sie uns über den Abend der Vergewaltigung sprechen." sie atmet tief aus und verschränkt die Arme vor der Brust. ,,Na gut..." ,,Erzählen Sie mir von der Nacht." wieder atmet sie tief durch und ihre Hand beginnt zu zittern. ,,Ich verurteile Sie nicht Yamila. Sie könne mir vertrauen. Nichts wird diesen Raum verlassen." sie schaut von ihrer zitternden Hand in seine Augen, die sie ehrlich ansehen. Aus Respekt hat er sein iPad beiseite gelegt und seine Hände auf dem Schoß gefaltet.

Sie beginnt zu erzählen, lässt kein Detail aus. Alles, auch wenn es vielleicht unwichtig erscheint erzählt sie. Was sie trug, was er trug, wie die Temperatur war, wie sie die Musik empfand. Dr Michels schaute sie dabei die ganze Zeit an und reichte ihr ein Taschentuch, als ihr eine kleine Träne die Wange hinunter lief sobald sie beim heiklen Teil ankam. Als sie fertig erzählt hatte, lässt sie ihre Schultern sinken die sie die ganze Zeit angezogen hatte. Sie schließt für einen Moment die Augen und versucht die Bilder in ihrem Kopf zu verdrängen.

,,Wie fühlen Sie sich jetzt, nachdem Sie mir das erzählt haben?" sie beißt sich auf die Unterlippe. Ja, das ist eine gute Frage. ,,Ich weiß nicht genau." einem völlig Fremden etwas so intimes zu offenbaren ist einerseits beschämend und doch fühlt sie sich erleichtert. ,,Es ist komisch, dass ich es Ihnen, einem Mann den ich kaum kenne, erzählt habe. Aber genau deswegen fühlt es sich vielleicht auch besser an, wie als ich es meiner Familie berichtete. Sie sehen mich jetzt nicht so an."

,,Was genau meinen Sie damit?" Yamila erinnert sich an den Blick von Ryan, an die Selbstsucht ihrer Schwester und die immer mehr entweichende Gesichtsfarbe ihres Vaters. Doch alle hatten den selben Blick. Alle hatten Mitleid. Das ist aber nicht das was sie wollte. Sie wollte kein Mitleid, sie wollte Verständnis für ihren momentanen Zustand. ,,Sie bemitleiden mich nicht. Sie sehen mich immer noch an wie vorher. Und das ist gut. Sie werden mich nicht anders behandeln. Und auch das ist gut." seine Mundwinkel zucken leicht und formen sich dann zu einem warmen lächeln. ,,Okay, das reicht für heute. Ich werde erst in zwei Wochen wieder Zeit für Sie haben, deswegen bringen Sie dann bitte Ryan wieder mit."

Sie steht auf und bedankt sich bei ihm, bevor sie das Gebäude verlässt. Er ist zu frieden, dass sie sich ihm etwas öffnete. Sie hat noch einen weiten Weg vor sich und Ryan könnte alles zu Nichte machen, wenn er sie wieder so fallen lässt wie damals. Aber auch daran kann man arbeiten, dass es Yamila nicht ganz von den Füßen haut, falls er sie wieder verletzten sollte.

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