35.1. Guilt

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Guilt

Selbst am nächsten Morgen konnte Effie den Schreck des vergangenen Tages nicht völlig von ihr abschütteln. Nachdem die Handgreiflichkeit zwischen Haymitch und Alucard Sparrow trotz des vielen Bluts unbemerkt geblieben war, hatte sie gehofft, einfach mit dem Abend fortfahren zu können, als wäre nichts passiert. Doch auch nicht Haymitch, der sie mit seinem seltsamen Humor zu trösten versucht hatte, hatte wirklich zu ihr durchdringen können. Seine Witze waren eher schräg gewesen und Effie war ziemlich schnell aufgefallen, dass er keinerlei Erfahrung damit hatte, jemandem Trost zu spenden.

Und selbst jetzt, wo das Sonnenlicht ihre Haut wie eine warme Berührung liebkoste, konnte Effie sich nicht völlig von dem Bild vor ihrem inneren Auge loslösen, welches sie bereits vom Schlafen abgehalten hatte. Nie in ihrem Leben hatte sie sich in einer solchen Situation befunden – einem Mann hilflos ausgeliefert. Natürlich kannte sie die Geschichten, aber hatte sie allesamt als Übertreibungen oder Rufmord abgetan. Jetzt fragte sie sich, wie viele von ihnen tatsächlich der Wahrheit entsprachen. Und dennoch würde Effie sich wieder in diese Lage bringen. Wenn Haymitchs Drohung nicht über ihr hängen würde.

Haymitch. Effie wusste, dass er trotz seiner schlechten Aufmunterungsversuche immer noch sauer auf sie war. Weil sie Alucard Sparrow freiwillig in dieses Labyrinth gefolgt war, obwohl sie genau gewusst hatte, was sie erwarten könnte. Effie war davon ausgegangen, dass sie besser dazu fähig sein würde, ihre Emotionen von sich zu schieben. Sie hatte nicht geglaubt, dass Alucard so weit gehen würde. Sie hatte nicht geglaubt, dass ihr Kopf ein solches Drama daraus machen würde, falls doch.

Und nun stand Effie also inmitten der Sponsorenlounge, ein aufgepeppter Orangensaft in ihrem Kristallglas, um nach außen die übliche selbstbewusste Ruhe auszustrahlen. Haymitch hatte ihr einen schiefen Blick zugeworfen, als sie ihn nach seinem Flachmann gefragt hatte, nur um sich dann doppelt so viel Vodka in seinen eigenen Saft zu schütten.

Der sechste Morgen der Hungerspiele startete noch öder als der davor. Die Menschen, die an den Wettbörsen ihre Scheine einreichten, hatten sich seit gestern halbiert. Auch insgesamt waren zu der Uhrzeit für gewöhnlich mehr Sponsoren vor Ort. Effie hatte bereits seit ihrer Ankunft die Augen nach Seneca offengehalten. Doch er war nicht hier. Sie konnte sich zusammenreimen, was das bedeutete. Die Spielmacher waren sicher bereits am Tüfteln, wie sie das Ruder in die richtige Richtung lenken konnten, bevor Präsident Snow sich ihnen annahm. Man flüsterte, dass ein persönlicher Besuch des Präsidenten bei den Spielmachern vorkommen konnte, wenn die Dinge nicht nach Plan liefen. Und das hier war bereits der zweite Tag, der belanglos begann.

Bisher hatte sich in der Arena kaum etwas getan. Die Karrieros waren zwar zum Morgengrauen für die Jagd aufgebrochen, hatten bisher jedoch keine Fährte aufgespürt. Mit einem Haufen nunmehr unmotivierter Verbündeter im Schlepptau wanderte Cashmere eher ziellos umher als tatsächlich auf Beute aus zu sein. Es schien fast, als würde sie ihnen eine Pause gönnen. Vielleicht plante sie aber auch nur, wie sie sie einen nach dem anderen umbringen würde.

Effie und Haymitch standen etwas abseits der rauschenden Menschenmenge, mit dem Rücken an das Geländer der Terrasse – mit der stärkenden Sonne im Rücken. Sie nippten schweigend an ihren Gläsern und beobachteten beinahe passiv das Treiben auf der lichtüberfluteten Lounge als einige Avoxe das Frühstücksbuffet aufstellten. Keiner von ihnen machte Anstalten, sich unter die drängelnden Menschen zu mischen.

Haymitch verzog bei dem Schauspiel abschätzend die Augen. Eine Kritik, die berechtigt war. Die Leute hechteten auf das Essen zu, als verhungerten sie, wenn sie ihre Ellbogen nicht in die Mitmenschen rammten, die ebenfalls zum Buffet wollten. Als spielte es eine Rolle, wer die goldenen Macarons oder die mit Kaviar überzogenen Baguettes zuerst erreichte. Als wüssten sie nicht, dass ohnehin für Nachschub für mindestens doppelt so viele Gäste gesorgt war. Effie konnte ihm die Gedanken förmlich in den Augen ablesen.

An Era Awakens (Hayffie)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt