Obwohl Haymitch nichts lieber tun wollte, als Chaff nach seinen genauen Beobachtungen zu befragen, fuhr er mit dem Aufzug sofort hoch auf seine Etage. Auf den ersten Blick wirkte alles wie immer. Die Avoxe standen an ihren zugeteilten Plätzen. Wohnzimmer, Bar und Essbereich waren leer. Niemand war hier. Von Friedenswächtern weit und breit keine Spur. Aber etwas war anders. Die Gesichtszüge der Avoxe wirkten zu versteinert, zu regelkonform und emotionslos. Die Atmosphäre war erdrückend, als würde jede Sekunde alles um ihn herum explodieren.
Die Veränderung fiel Haymitch erst auf, als er sein eigenes Zimmer betrat. Der Rest des Penthouses war immer sauber und ordentlich gehalten. Nicht jedoch sein Zimmer. Sein Zimmer war von Anfang bis Ende der Spiele das reinste Chaos. Zumindest war es bis heute Morgen noch der Fall gewesen. Jetzt strahlte ihm ein ordentlich, geputzter Raum entgegen; gesäubert bis auf das letzte Staubkorn.
Die Friedenswächter waren auf der Suche nach etwas gewesen. Haymitch wusste nicht, wonach. Sie waren an seinen wenigen persönlichen Sachen gewesen. Die Schränke und Schubladen waren so aufgeräumt, der Boden so frei von Kleidung und Flaschen, dass er sein eigenes Zimmer kaum wieder erkannte. Er starrte und starrte und sah dennoch nichts. Was wollten sie von ihm?
Haymitchs Blick wanderte zum Bett, dessen Laken frisch bezogen und sorgsam gefaltet dalagen und er fragte sich, ob sie auch in Effies Zimmer herumgeschnüffelt hatten, ob sie-
Haymitchs Blick flog zurück zum Bett. Er weitete die Augen, zwang den Fokus in seine Sicht. Er starrte und starrte und fragte sich, wie er es hatte übersehen können. Sein Körper gefror zu Eis. Er hatte das Gefühl zu fallen. Ein Abgrund tat sich unter seinen Füßen auf und er stürzte in die schwarze Tiefe. All die Furcht, all die Panik, die Haymitch jahrelang sorgsam in Schubladen zu stecken gelernt hatte, breitete sich in seinen Adern aus wie Gift. Für eine qualvoll lange Minute war er unfähig zu atmen. Für eine grausam lange Minute, dachte er, dass er hier und jetzt an einem Herzinfarkt sterben würde. Dass es sich mit seinem Leben endlich erledigt hatte. Das wäre gnädig gewesen. Aber sein Schicksal war noch nie gnädig gewesen.
Haymitch fiel auf die Knie. Mit einem solchen Knall, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Sein Puls raste. Sein Herz schlug so wild gegen seine Brust, als würde es die Haut entzweireißen wollen. Seine zitternden Finger berührten den Boden, auf der Suche nach Gleichgewicht. Da war kaum Alkohol in seinem System.
Langsam, so schmerzhaft langsam, kroch Haymitch nach vorn. Dem Bett entgegen. Er musste es nochmal sehen; musste sicher gehen. Vielleicht hatten seine Augen ihm einen Streich gespielt. Vielleicht hatte Chaff die Friedenswächter falsch gedeutet und das hier war nur irgendeine Routine. Eine Routine, die Effie vergessen haben sollte? Haymitch stützte sich auf die Bettkante und spinkste darüber hinweg. Zum Kopfkissen. Als würde er sich davor verstecken können.
Ein Brief lag auf Haymitchs Kopfkissen. Ein Umschlag aus dickem, weißem Papier. Auf dem roten Wachssiegel prangte das Wappen des Kapitols. Jeder Sieger wusste, was dieser Brief bedeutete. Wofür er stand. Und was geschah, wenn man sich seinem Inhalt verweigerte.
Haymitch senkte den Kopf, lehnte die Stirn gegen die Matratze und schloss die Augen. Sie wussten Bescheid. Sie wussten von Effie und ihm. Es gab keine andere Erklärung. Sie mussten denken, dass es etwas Ernstes war. Vielleicht war es auch einfach nur Strafe für 12s gutes Abschneiden dieses Jahr. Aber er durfte kein Risiko eingehen. Nein. Jeden Atemzug, den er weiter an Effies Seite verbrachte, war ein Risiko.
Kälte fuhr durch Haymitchs Körper, schoss durch sein Blut, drang in jede Faser seiner Knochen ein, ließ seine Zähne klappern. Es fühlte sich an, als hätte die Temperatur im Raum schlagartig abgenommen, aber ihm fehlte die Kraft, um zum Fenster zu schauen. Es war Hochsommer, dieses Eis kam sicher nicht von draußen.
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An Era Awakens (Hayffie)
Fanfiction„Augen auf, Kopf hoch und lächeln. Lass sie niemals die Zerstörung sehen." Vierzehn Jahre nach seinem Sieg ist Haymitch zu einem jungen Alkoholiker verfallen. Die 64. Hungerspiele stehen an und Distrikt 12 bekommt ganz überraschend eine neue Betreue...