36.1. High on Despair

98 4 5
                                    

High on Despair

Es war später Abend. Fast schon nach Mitternacht. Ein Tag voller Qual, aufgeladener Emotionen und falscher Lächeln ging zu Ende. Ein verdammt beschissener Tag, wenn man Haymitch gefragt hätte. Der schlimmste Tag dieser Saison. Bisher. Aber ihn fragte natürlich niemand. Wahrscheinlich lachte Snow sich gerade in seinem Palast einen ab, weil Ramons Tod Haymitch zurück auf den steinharten Boden der Realität gezogen hatte.

Effie hatte alles so leicht wirken lassen. Sie hatte ihn in ihre Magie eingelullt, hatte ihn glauben lassen, dass dieses Jahr anders werden würde. Dieses Jahr war anders. Beide Tribute waren unter den letzten Zehn. Was gut war. Außergewöhnlich. Wenn es einem nur um die Zahlen ging. Für Haymitch zählte aber, ob die Tribute am Ende des Tages im Sarg nachhause fuhren oder nicht. Ob sie nun am Anfang oder am Ende der Spiele starben, war da scheißegal.

Sarg. Immerzu war es der Sarg gewesen. Jahr um Jahr um Jahr. Dieses war keine Ausnahme.

Also starrte Haymitch auf den offenen Holzsarg. Starrte und starrte und hoffte, dass ihn der Blitz in dieser unterirdischen Kammer des Trainingscenters traf, in der man die Leichen der toten Tribute aufgebahrte. Ramon war offensichtlich tot. So wie die ganzen anderen Kinder es auch gewesen waren, deren Identitäten man ihn hatte bestätigen lassen.

Denn als wäre das Sterben der Tribute nicht schon schlimm genug, war es Pflicht, dass entweder Betreuer oder Mentor den Leichnam für die Überführung in den Heimatdistrikt freigab. Eine Unterschrift war nötig. Um zu bestätigen, dass Ramon tatsächlich Ramon war; dass er tatsächlich tot war. Wie wenn er plötzlich wieder von den Toten auferstehen würde ... Wäre Haymitch in besserer Verfassung, hätte er die Augen verdreht. Er hatte keine Ahnung, was sich die idiotischen Kapitoler dabei dachten. Wahrscheinlich nichts. Wahrscheinlich war diese Leichenbeschauung nur dafür da, um ihn ein weiteres Mal vorzuführen – um ihm seine Machtlosigkeit unter die Nase zu reiben.

Nur dass er heute – das erste Mal – nicht allein vor dem Sarg stand. Haymitch konnte Effies Wärme neben sich spüren. Während alles um ihn herum von der Kälte des Kühlzimmers durchfressen war, war Effie wie der Fels in der Brandung. Das Feuer in all dem Eis. Sie stach heraus.

Dieser war einer der Momente, in denen Haymitch sich fragte, ob Effie tatsächlich eine Kapitolerin war oder sie sich irgendwie hierher verirrt und die Rolle seither einfach nur perfektioniert hatte. Zugegeben, nach außen hin war sie das perfekte Püppchen des Kapitols. Aber fernab der Menschen, wenn sie allein oder unbeobachtet waren, war sie alles andere als das. Haymitch wunderte sich, wie sie ihr ganzes Leben so behütet hatte leben können, ohne etwas von der grausigen Realität ihrer Heimat mitzubekommen.

Ich bin wie die anderen in dieser Stadt, hatte Effie gesagt. Aber ich bin anders als Petunia oder wenn du es so haben will, ich bin anders als die typische Kapitolerin. Es machte ihm Angst, was dahinterstecken könnte. Denn Haymitch war sein ganzes Leben nur von der Elite des Kapitols umgeben gewesen. Er hatte tatsächlich gar keine Ahnung, wie ein normaler Kapitoler war. Bis er Effie getroffen hatte. Und ob sie nun wirklich ein gewöhnliches Vorzeigeexemplar war, konnte er nicht belegen. Der Gedanke, dass die große Mehrheit der Menschen wie Effie war, bereitete ihm Sorge. Nicht wegen ihrer guten Eigenschaften. Sondern weil Effie ahnungslos und naiv gewesen war, bevor sie in den Spielen eingestiegen war. Brauchte es erst die bittere Realität direkt vor der eigenen Nase, um die Menschen hier aufzuwecken? Versteckte die Elite ihre Gräueltaten so gut, dass niemand in dieser Stadt etwas davon mitbekam? Denn allem Anschein nach war es so.

Eine andere Frage, deren Antwort nicht in Haymitchs Kopf gehen wollte, war, wie zur Hölle Effie plante, diesen Job bis zum Ende ihrer Karriere durchzuhalten. Ihr Schluchzen durchschnitt die Stille der Kältekammer. Er konnte das Schlottern ihrer Zähne hören. Es war eine enorme Überwindung, ihr nicht einfach einen Arm, um die Schulter zu legen. Aber wo wäre da der Lerneffekt? Sie hatte heute einen neuen Teil des Puzzles verstanden. Schuld. Ihre Schuld. Auch wenn es noch mehr Tode erfordern würde, bis diese Tatsache völlig zu ihr durchsickerte. Aber es war ein Anfang.

An Era Awakens (Hayffie)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt