36.2. High on Despair

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Haymitch hatte keinen blassen Schimmer, wie viel Zeit vergangen war, seitdem er sich den letzten Drink eingeschüttet hatte. Er blinzelte gegen die Schwärze des Schlafes, gestört durch ein Geräusch in der Ferne, welches sein Hirn nicht einordnen konnte. Gefahr, rief sein Unterbewusstsein, obwohl er die Arena längst in seinen Träumen abgehängt hatte. Er schlug die Augen auf, ein einzelner Wimpernschlag, aber da war weiter nichts als Dunkelheit. Verwirrung breitete sich in seinen Gliedern aus. Sein Zimmer war das hier schon mal nicht. Denn dort war Licht. Immer. Auch in tiefster Nacht. Ob nun eine Lampe oder die zurückgezogenen Vorhänge, um die Lichter der Stadt hereinzulassen.

Haymitch bewegte seine Muskeln kaum merklich. Falls er sich doch in Gefahr befand, wollte er keine Reaktion seines Gegners triggern. Aber da war niemand außer ihm. Und er lag auch gar nicht, wie er zuerst angenommen hatte, sondern saß auf einem Sessel. Zumindest vermutete er, dass es ein Sessel war, weil etwas Weiches, Nachgiebiges gegen seine Finger streifte. Die Müdigkeit wurde weiter und weiter aus seinem Kopf zurückgedrängt. Nur um von einem Hämmern in seiner Schläfe abgelöst zu werden. Alkohol also. Nicht wenig Alkohol.

Eine Sekunde später ertönte erneut dieses Geräusch. Ein Poltern, welches nun näher war als das vorherige. Deutlich näher. Die Finger von Haymitchs rechter Hand glitten wie von selbst zu seiner Hosentasche – zu dem Jagdmesser, das er immer dabeihatte – und erstarrten, als ein Kichern zu ihm getragen wurde. Weiblich und amüsiert. Sein Körper entspannte sich etwas. Also doch keine Gefahr. Nur Effie.

Der Gedanke an Effie ließ die letzte Erschöpfung von Haymitch abfallen. Angestrengt kniff er die Augen zusammen, während er den Geräuschen im Flur lauschte, die sich deutlich auf ihn zubewegten. Und dann erinnerte er sich plötzlich daran, wo er war, warum er hier hockte und was er getan hatte, um in diesen Zustand zu gelangen.

Ramon war tot. So wie all die anderen Tribute die vor ihm gekommen waren auch. Diese Erinnerung ließ seinen Magen zusammensacken; machte seinen Magen mit einem Mal so schwer, als könnte er ohne Probleme durch den Boden in die Tiefe gezogen werden. Es schnürte ihm die Luft ab; ließ seine Finger zittern; ließ die Dämonen näher an der Oberfläche seines Bewusstseins kratzen. Nach vierzehn Jahren wusste Haymitch zwar, wie er diese zurückhalten konnte und es gelang ihm für Gewöhnlich. Aber dieses Jahr war anders. Effie hatte alles verändert. Verbessert und verschlimmert. Aber der Schmerz war viel stärker, viel zerstörerischer als jede positive Emotion es jemals sein könnte.

Also hatte er sich betrunken, sobald Effie das Penthouse verlassen hatte. Glas um Glas, Shot um Shot, hatte er sich mit Chaff reingezogen, während der Avox an der privaten Bar von 12 ihnen Blicke zugeworfen hatte. Wo sonst Verstohlenheit lag, war heute Mitleid gewesen. Der Tod eines Tributs traf sie alle, egal ob Avox, Mentor oder Betreuer.

Effie war nun so nah am Wohnzimmer, dass man die trippelnden Schritte ihrer Highheels vernehmen konnte. Klappernd und quietschend glitten die Absätze über den Boden. Ihr Lachen wurde mit jedem Atemzug lauter. Sie war nicht allein. Jemand anders lachte mit ihr. Eindeutig männlich. Haymitch drückte sich tiefer in den Sessel und wartete.

Taumelnde Schritte, Gelächter, flackerndes Licht und plötzlich stand Effie im Türrahmen des Wohnzimmers. Seneca Crane hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt, stützend, als bräuchte sie Hilfe. So wie sie aussah, brauchte sie diese tatsächlich. Effies wässrige Augen blinzelten, als sich die Lampen im Wohnzimmer automatisch aktivierten. Der Spielmacher neben ihr lächelte zurückhaltend und belustigt zugleich. Bis sie ihn entdeckten.

Haymitch wusste nicht, wessen Miene er interessanter fand. Cranes, die von privatem Amüsement mit einem Mal in eine kühlere, distanziertere Version überlief, als fühlte er sich ertappt. Oder Effies, die ihre Augen zufrieden aufriss, als wäre sie überglücklich, ihn zu sehen.

An Era Awakens (Hayffie)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt