Teil 6

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Steffs Sicht:

Als ich am nächsten Morgen aufwache, fühle ich mich schlechter als die Tage zuvor. War es wirklich die richtige Entscheidung Motti zu fragen, ob er die Woche bei Hannes sein möchte? Meinem Sohn wird es sicher gut tun, sofern Thomas sich so verhält wie er es momentan tut. Aber Thomas? Wie wird es ihm damit gehen? Wird das seinen Zustand verschlechtern oder wird er dies recht gleichgültig so hinnehmen? Die Stunden des Tages scheinen sich wie Kaugummi zu ziehen, während ich regelmäßig auf mein Handy schaue, in der Hoffnung von Hannes über das, was zuhause passiert, informiert zu werden.

Hannes Sicht:

Meinen Neffen ins Bett zu bringen, gestaltet sich trotz seiner Müdigkeit nicht so leicht. Noch mehrmals erzählt er mir wie schön es war mit Mama zu telefonieren und dass ich ihm wirklich versprechen muss, dass wir das jeden Abend machen. Es tut mir leid, dass er so an unserem Versprechen zweifelt. Die letzten Jahre habe ich ihn immer als aufgeweckten kleinen Jungen gekannt, dessen Vertrauen in Mama und Papa grenzenlos war. Ebenso das Vertrauen in Nowi und mich. Vom ersten Tag an waren wir vier immer für ihn da und wir haben ihm beigebracht, dass er mit jeder Sorge, mit jeder Angst, einfach mit allem zu uns kommen kann, wir ihm zuhören, ihn in den Arm nehmen, einfach da sind. Es macht mich traurig, dass mein Bruder ihm diese Liebe, dieses Bindungslose genau jetzt nicht entgegenbringt. Ausgerechnet jetzt, wo der kleine Mann es am meisten braucht. Das erste Mal ist er länger von Mama getrennt. Thomas hat doch gemerkt, dass Motti schon vorher traurig war und seine Mutter nicht gehen lassen wollte. Doch seit der Abreise ist Thomas nicht mehr er selbst. So wie jetzt, so abweisend, so ignorant, so egoistisch und gar schon asozial kenne ich meinen Bruder nicht. Es macht mich traurig, dass er Steff ignoriert und wütend, dass er seinen Sohn so mies behandelt. Dass er nicht wenigstens mit mir spricht, kränkt mich. Wir waren schon immer sehr eng miteinander. Wir haben uns immer alles erzählt, uns bei allem unterstützt. Doch dieses Mal ist es anders. Aber was denk ich da? Dieses Mal ist alles anders. Dieses Mal ist Thomas anders. Ich bin gespannt, wie er die Nachricht aufnehmen wird, dass Motti ab sofort bei mir unterkommt. Ich bin gespannt, ob die Nachricht eine Diskussion mit sich bringt oder ihm auch dies gleichgültig ist. So wie ihm momentan alles gleichgültig ist, was ihm sonst wichtig war. Wir treffen uns weiterhin jeden Tag im Proberaum, um die letzten Dinge für die Konzerte im Ausland vorzubereiten, die direkt nach Steffs Ankunft anstehen. Doch sogar da nimmt Thomas alle Vorschläge von Nowi und mir einfach hin und redet so gut wie gar nicht. Auch Nowi hat schon versucht die Situation zu entschärfen, mit Thomas zu sprechen. Aber auch er hat keine Chance.

Am nächsten Morgen bringe ich Motti wie besprochen zur KiTa. Auf dem Weg dahin erzählt er mir fröhlich mit welchen Freunden er heute spielen will und was sie immer machen. Geduldig lasse ich ihn erzählen und freue mich, dass er immerhin in diesem Moment glücklich zu sein scheint. Wenn ich ihn weg gebracht habe, werde ich Steff das schreiben denke ich mir. Vielleicht muntert sie das ein wenig auf. „Hannes?" kommt es aus dem Kindersitz? „Ja Motti?" antworte ich. „Holst du mich heute aus dem Kindergarten ab und fahren wir dann direkt zu dir nachhause?" fragt er mich. „Wie möchtest du es denn am Liebsten Großer?" frage ich ihn, habe ich doch selbst noch keinen genauen Plan, denn dieser ist zugegebenermaßen auch etwas von dem Verlauf des Gespräches mit Thomas abhängig. „Ja du sollst mich abholen. Oder Onkel Nowi. Oder ihr beide und dann gehen wir auf den Spielplatz. Ich will endlich wieder auf den Spielplatz und mit Nowi und dir ist das immer so lustig und bringt mir so viel Spaß." „Auf den Spielplatz können wir später auf jeden Fall gehen. Ob Nowi mitkommen kann weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob der noch einen Termin hat. Aber ich werde ihn definitiv gleich fragen und falls er heute nicht kann bespreche ich wann er in den nächsten Tagen Zeit hat mit uns auf den Spielplatz zu gehen. Bist du damit einverstanden?" „Ja! Das ist gut. Endlich wieder draußen spielen mit euch!" freut er sich und ich mir wird in dem Moment deutlich wie sehr ihm das gefehlt hat. Es ist zwar eigentlich nur eine Woche, in der er das nicht machen konnte, aber die Tage haben sich für ihn wahrscheinlich angefühlt als wäre er Wochen lang eingesperrt gewesen. Umso wichtiger ist es, dass ich Thomas nachher überzeugen kann, dass sein Sohn die nächste Woche bei mir wohnen wird, damit die Woche wieder mehr Normalität für den Kleinen eintreten kann und es ihm besser geht. Kurze Zeit später bringe ich ihn zum Kindergarten und informiere seine Erzieherin noch kurz, dass ich den Kleinen voraussichtlich in den nächsten Tagen abholen werde. Dies wird zum Glück nicht weiter hinterfragt, sondern nur kurz zur Kenntnis genommen. In diesem Moment bin ich froh, dass wir alles so eine enge Bindung zu dem Kleinen haben, dass die Erzieherinnen uns kennen und es als das Normalste der Welt hinnehmen, dass Motti mal von mir, mal von Nowi und mal von seinen Eltern abgeholt wird.


Abschied ohne LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt