Teil 34

98 8 1
                                    

Hannes Sicht:

Überrascht, dass er ausgerechnet mit diesem Lied zu kämpfen hat, beobachte ich ihn genauer. Bei Liedern wie Verletzen oder das Beste habe ich mich auf einen emotionalen Zusammenbruch seinerseits eingestellt. Insbesondere ersteres ist noch ganz neu und beschreibt die aktuelle Situation doch irgendwie ganz gut. Klar scheint hinter allem ein großes Problem zu stecken, doch passt der Text perfekt, denn genau das Beschriebene ist eingetreten, denn Thomas hat nicht nur Steff mit seinem Verhalten stark verletzt. Da verstehe ich noch eher, dass ihn das Beste kalt lässt. So oft wie wir das Lied schon gespielt haben, fällt es ihm dabei wahrscheinlich leichter den Text auszublenden und das Lied einfach an sich vorbei ziehen zu lassen. Auch Sophie hat er gut überstanden, obwohl dies aus seiner und Steffs Feder stammt und ein Lied ist, mit dem sich sowieso beide schwer tun. Doch jetzt sind wir bei durch die Nacht angekommen und Thomas verkrampft bei jedem Griffwechsel. Er spielt zwar noch alle Akkorde, bis jetzt ohne Fehler, doch auch ein Fremder würde merken, dass etwas nicht stimmt. Mit Mühe löse ich mein Blick von meinem Bruder, um Kontakt zu Nowi aufzunehmen. Auch er beobachtet Thomas skeptisch. Ich kann das nicht länger mit ansehen und gebe Nowi das Zeichen aufzuhören. Es ist mir ein Bedürfnis Thomas von seinen Qualen zu erlösen. Doch entgegen unserer Erwartung hört dieser nicht ebenfalls auf zu spielen, sondern spielt einfach weiter. Verwirrt wandert mein Blick erneut zu Nowi, der nur ratlos mit den Schultern zuckt. Thomas scheint so in seiner Welt zu sein, dass er nicht bemerkt, dass er schon längst der Einzige ist, der seiner Gitarre Töne entlockt. Ich kann das nicht ertragen und spreche ihn an. „Thomas. Thomas." versuche ich seine Aufmerksamkeit zu erlangen und spreche seinen Namen mit jedem Mal lauter aus, doch es bewirkt nichts. Mir bleibt nichts anderes übrig als mich langsam auf ihn zu zubewegen und ihn an der Schulter zu rütteln, wobei ich erneut seinen Namen sage. Völlig erschrocken, gar leicht panisch schaut er mich an, während schiefe Töne auf seiner Gitarre erklingen. „Was ist los?" frage ich ihn, bemüht seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Doch er steht mir regungslos gegenüber, blickt mich an. Sein Blick ist leer, kalt, geht durch mich hindurch, ohne mich wahrzunehmen. Nowi kommt mir zur Hilfe und nimmt Thomas die Gitarre ab, was dieser ohne jegliche Regung mit sich machen lässt. Gemeinsam führen wir meinen Bruder zur Couch, lassen ihn sich setzen. „Thomas. Hörst du mich? Was ist los? Brauchst du einen Arzt?" frage ich mittlerweile ziemlich verzweifelt. Langsam findet er aus seiner Schockstarre, oder in was auch immer er gefangen ist, heraus. „Was?" fragt er mich lediglich und scheint immer noch gewissermaßen in einer Parallelwelt gefangen zu sein. „Was können wir für dich tun?" frage ich nochmal genauer. Ich bin erleichtert, als Thomas seinen Kopf zu mir dreht und sein Blick meinen zu treffen scheint. Langsam scheint er wieder in dieser Welt anzukommen. Noch bevor ich weitere Fragen stellen oder mir überlegen kann, wie ich vorgehe, nimmt Thomas mir dies ab, in dem er plötzlich in Tränen ausbricht und sich an mich klammert. Überrascht und etwas überfordert schließe ich meinen kleinen Bruder in meine Arme, bemühe mir ihm Halt zu geben und einfach da zu sein. „Hannes das. Das geht nicht. Bitte nicht dieses Lied." Ist das Einzige, was ich aus seinem verzweifelten Schluchzen verstehe. „Ist okay Thomas. Wir können das streichen." versuche ich ihn beruhigen und frage mich immer noch, was an diesem Lied so schlimm für ihn ist. Dass es momentan nicht leicht ist und womöglich insbesondere die Nächte ein Kampf für ihn sind, glaube ich sofort. Aber ist es wirklich so schlimm? Kämpft er sich durch jede Nacht? Morgens wirkt er eigentlich recht erholt. Doch ist das wirklich so, oder ist es nur Schein? So viele Fragen gehen mir durch den Kopf und ich reiße mich zusammen diese nicht sofort auszusprechen. Jetzt gilt es erstmal die Situation in den Griff zu bekommen. Nur langsam kommt Thomas in meinen Armen zur Ruhe und ich könnte erleichterter nicht sein, als er sich endlich gefangen hat. „Willst du vielleicht mal etwas trinken?" fragt Nowi und reicht Thomas ein Glas Wasser, das er dankend annimmt. Wir geben ihm noch etwas Zeit, doch so stehen lassen können wir das nicht. Für mich stellt es kein Problem dar dieses Lied durch ein anderes zu ersetzen. Doch Antworten auf meine Fragen möchte ich dennoch haben. Und da es nichts bringt, die Augen vor dem, was hier gerade passiert ist zu verschließen, beginne ich das Gespräch: „Thomas? Magst du uns vielleicht mit in deine Welt nehmen und versuchen zu erklären, warum dich dieses Lied so aus der Bahn geworfen hat, was in dir vorgegangen ist?"


Abschied ohne LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt