2 | Zeugenstand

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Es sind einige Wochen seit dem Vorfall im Park vergangen. Ich lebte mein Leben wie bisher. Neben dem College und der Arbeit im Krankenhaus passierte nichts Spektakuläres in meinem Leben. Dafür hatte ich keine Zeit. Zumindest bis vor ein paar Tagen, als ich eine Vorladung in meinem Briefkasten hatte. Detective Miles hatte mich bereits darauf vorbereitet, nachdem sie ihn festgenommen hatten. Ein gutes Gefühl hatte ich dennoch nicht bei dieser Sache. Meine Chancen, nach der Verhandlung wie üblich weiterleben zu können, standen gleichermaßen gut wie auch schlecht.

Jedenfalls ist heute der Tag gekommen, an dem ich gegen den Typen aus dem Park vor Gericht aussagen muss. Hier stehe ich also vor dem Gerichtsgebäude. Ich habe mir vorgenommen, meine Aussage zu wiederholen, die ich bereits bei der Polizei gemacht hatte. Detective Miles setzte mich auch darüber in Kenntnis, dass Hernandez ebenfalls heute im Gerichtsaal sein würde. Das war die einzige Sache, die mich wirklich verunsicherte. Ich war schließlich der Grund, weshalb er überhaupt einsitzen musste. Vor der riesigen Treppe am Eingang standen etliche Nachrichtensender, die über die Verhandlung berichteten. Im Gerichtssaal selbst durften sie zum Glück nicht anwesend sein. Mein Name würde ja so oder so fallen. Da musste nicht noch mein Gesicht über jedes Display der Stadt flackern.

Ich sah mich noch einmal um, bevor ich mich endlich ins Gebäude begab. Bei einem Blick in den Saal, stellte ich schnell fest, wie gut besucht diese Verhandlung war. Hauptsächlich einfache Bürger, die Interesse an dieser Verhandlung zeigten. Einige Reporter der lokalen Zeitungen und natürlich Security und Anwälte. „Savannah?", überraschte mich die Stimme des Detectives. „Oh, Detective Miles. Bereit für den großen Tag?" Eine noch dämlichere Frage hätte mir nicht einfallen können. "Das sollte ich Sie fragen. Diese Verhandlung wird ihr Leben verändern." Mir war ja bewusst, dass er mir das noch einmal verdeutlichen musste. Aber meine Hoffnungen, ein normales Leben leben zu können, komplett zu zerstören, gehörten nicht zu meiner Vorstellung. ,,Ich bin bereit. Also wie läuft das jetzt ab?"

Der Detective erklärte mir, dass ich während der Verhandlung draußen warten musste. Er stellte einen Officer ab, der währenddessen in meiner Nähe bleiben würde. ,,Das alles ist nur zu ihrer Sicherheit. Wir gehen nicht davon aus, dass etwas passiert. Wir wollen uns nur absichern." Als ob mich das jetzt wirklich beruhigt. Ich nahm vor dem Saal Platz und die Stunden vergingen, ohne dass ich wusste, was vor sich ging, oder wann ich endlich aufgerufen werde. Doch noch bevor ich diesen Gedanken beenden konnte, öffnete sich die Tür zum Saal und einer der Sicherheitsmänner rief meinen Namen auf. „Savannah Campbell!" Das war mein Moment. Ich betrat in völliger Stille den Saal, nahm im Zeugenstand Platz und legte meinen Eid ab. Rechts von mir saßen die Geschworenen, die ihren Blick auf den Staatsanwalt richteten.

"Miss Campbell! Sie waren zur Tatzeit als Ersthelferin vor Ort. Was haben Sie dort gesehen?" Ich ratterte meine Worte ein erneutes Mal herunter. Ich dachte, damit wäre ich durch. Doch dann sprach der Staatsanwalt weiter. ,,Eine Frage habe ich noch an Sie, Miss Campbell. Er ging einen Schritt zur Seite und zeigte mit dem Finger auf Hernandez. „Ist das der Mann, den Sie im Park gesehen haben?" Ich erstarrte. Darauf war ich nicht vorbereitet. In den Vorgesprächen hatte man mir versichert, dass ich Hernandez nicht noch einmal im Gerichtssaal identifizieren müsse. Widerwillig blickte ich zu ihm herüber. Seine Augen eiskalt. Ein bedrohliches Grinsen, das mir eine Gänsehaut am ganzen Körper verpasste. Ich wollte ihm nicht zeigen, dass er mir zusetzte. „Ja, das ist er. Sein Gesicht und das Tattoo würde ich immer wieder erkennen." Mein Blick verweilte noch einen Augenblick auf seinem Gesicht. "Keine weiteren Fragen." Und auch Hernandez' Anwalt verzichtete auf eine Befragung. Dann wurde es laut im Gerichtssaal und der Richter rief zur Ruhe auf.

Er entließ mich aus dem Zeugenstand und als ich den Saal verlassen wollte, flüsterte Hernadez, als ich an ihm vorbeiging: „Bis bald, kleine Süße, Savannah." Sein Anwalt mahnte ihn, das zu unterlassen. Es war für alle anderen im Saal nicht zu hören. Schnellen Schrittes lief ich aus dem Saal, um als erstes Tief Luft zu holen. Ich öffnete zwei Knöpfe meiner weißen Bluse. Das Gefühl zu ersticken drohte mir, die Füße unterm Boden wegzureißen. Ich musste der Wahrheit ins Auge sehen. Ihm. Hier konnte ich nicht bleiben. Er würde sich an mir rächen. Sein Blick und dieser Satz. Er würde es nie vergessen. Ich war so intelligent und dann doch so naiv, zu glauben, dass meine Aussage keine Konsequenzen haben würde. ,,Savannah, ist alles in Ordnung? Setzen Sie sich", eilte Detective Miles an meine Seite. ,,Das war nicht abgesprochen. Der Staatsanwalt hat mich benutzt und jetzt sitze ich richtig tief in der Scheiße." Sein nachdenklicher Blick verriet mir, dass ich richtig lag. ,,Ich wusste nicht, dass er das tun würde. Wir müssen jetzt alles tun, damit Sie in Sicherheit sind.", sprach er ruhig zu mir.

"Wir? Glauben Sie wirklich, dass ich auch nur einem von Ihnen noch vertrauen werde. Ich wurde in die Schusslinie dieser Bestie geworfen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ich brauche und will Ihre Hilfe nicht." Wütend wie ich war, erhob ich mich und rannte aus dem Gebäude, wo auch schon das Blitzlichtgewitter der Presse auf mich wartete. Ohne Rücksicht darauf zu nehmen, bahnte ich mir meinen Weg durch die Menge. Ich musste hier weg. Und zwar so schnell wie möglich. Meine Gedanken rasten durch meinen Kopf und hinterließen pures Chaos. Was zur Hölle sollte ich jetzt tun? „Reiß dich zusammen und denk nach, Savannah.", sprach ich zu mir selbst. Ich hatte niemanden, den ich anrufen konnte. Niemanden außer meine Arbeitskollegen, die mir eh keine Hilfe sein würden. Außerdem konnte ich sie ja schlecht mit in diese Sache hineinziehen.

Ich entschied mich, erst einmal mein Apartment aufzusuchen. Chicagos Straßen sind voll und inmitten dieser Menschenmenge fühlte ich mich beobachtet. Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, von jemanden verfolgt zu werden. Doch immer wenn ich mich umdrehte, war niemand da, oder die Menschen um mich herum waren an ihrem Handy und telefonierten. Zu dieser Tageszeit einen Uber zu bekommen, war fast unmöglich, also lief ich nach Hause. Ich lebte in einer ruhigen Ecke von Chicago. Hier lebten Menschen aus aller Welt. Ich liebte die Straßenfeste, die in regelmäßigen Abständen stattfanden. Dann fühlte ich mich wenigstens dazugehörig. Hier achtete man noch auf seine Nachbarn. Das gab mir, wann immer ich besonders spät von der Arbeit kam, ein Gefühl der Sicherheit. Auch wenn ich sehr selbstbewusst bin und eine große Klappe habe, musste ich es auf der Straße nicht provozieren. Ich war nur 1,68 m groß und ziemlich zierlich. Ich wäre für jeden ein leichtes Ziel.

Nach über 30 Minuten erreichte ich endlich mein Apartment. Ich wollte gerade meine Tür aufschließen. Doch diese stand bereits offen. Vorsichtig öffnete ich sie, um einen Blick ins Innere zu werfen. Alles war durchwühlt und lag auf dem Boden verstreut. Das konnte kein Zufall sein. „Fuck!", rief ich etwas zu laut, dass sogar der Nachbar von nebenan mich hörte. „Ruhe da draußen!"

Langsam betrat ich meine Wohnung, schnappte mir eine Tasche und stopfte ein paar Klamotten hinein. Unter meinem Holzboden war ein Hohlraum, in dem ich für den Notfall mein Erspartes und meine wichtigsten Dokumente aufbewahrte. So auch meinen gefälschten Ausweis. Da ich ja erst 20 bin, brauchte ich einen, als ich früher mit den anderen aus meiner Schule durch die Clubs gezogen bin. Laut Ausweis bin ich schon 25. Das Foto war ganz ok, da es bearbeitet wurde. Nur der Name war...naja... gewöhnungsbedürftig. Sky Rivers aus New York. Klang eher danach, als würde eine verlorene Seele ihren Träumen in der Stadt nachjagen, die niemals schläft. Aber was hatte ich auch für 100 $ erwartet?

Ich steckte das Geld und die Papiere ebenfalls ein und verließ meine Wohnung. lmmer mehr wurde mir bewusst, dass ich niemanden hatte. Niemand, der sich um mich sorgen würde. Ich könnte verschwinden, und niemand fragt nach mir.

Und dann kam mir die Idee. Wenn niemand etwas wusste, weil mich eben niemand kannte. Wäre es möglich, abzuhauen und ein neues Leben zu beginnen? Das ist meine einzige Lösung. Ich musste alles hinter mir lassen, um überhaupt weiterleben zu können. Denn wenn ich es nicht täte, wäre ich wohl bald schon tot. Ich werde zurück nach New York gehen. Das ist meine einzige Chance.

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