Kapitel 50

11 1 0
                                    

Nenan Trolot

Sie trieben die Pferde bis zu ihrem Limit. Als Nenan sich schon sicher war, dass Niersbachs Klinge ihm gleich unter seinem Hintern wegbrechen würde, kamen sie endlich zum Stillstand. Oreni hatte die Truppe vom niemals Betretenen weggehetzt, bis sie den Wald kaum noch sehen konnten. Die Gruppe wurde schließlich langsamer, bis sie stehen blieben. Die Pferde schnaubten und Schaum stand ihnen vor den Nüstern, als Nenan von Niersbach abstieg und ihm die Schnauze tätschelte. "Gut gemacht, Großer. Hast du gut gemacht", murmelte er und wühlte in seiner Tasche nach zwei Äpfeln. Einen davon gab er Niersbachs Klinge, den anderen teilte er mit einem Messer. Chana stapfte auf ihn zu. "Was jetzt?", fragte Anton und stieg ebenfalls von seinem Pferd. "Lange können wir nicht rasten", sagte Theyn, die hinter Chana von Jula gestiegen war. "Wir müssen weiter ziehen. Und um ehrlich zu sein, habe ich kein Problem damit von diesem Wald so weit wie möglich weg zu kommen." Lahnol nickte zustimmend. "Warten wir nur, bis die Pferde wieder laufen können. Wir müssen ja nicht gleich lospreschen." Nenan griff sich an die Schläfen und aß eine Hälfte seines Apfels. Er ignorierte die Tatsache, dass ihn alle anstarrten. Durand rieb seinen Fuß unruhig am Boden und schob damit ein paar Blätter zur Seite. Der Wind fing sofort an, mit ihnen zu spielen. Nenan schluckte den Apfel und seufzte.

"Wir werden nur kurz rasten. Trinkt etwas, ruht euch aus. Wir bleiben nicht länger als eine halbe Stunde." Theyn und Berain nickten beide, die anderen murmelten etwas zustimmendes.

Chana saß neben ihrem Pferd am Boden, als einzige war sie nicht mit jemandem im Gespräch. Nenan setzte sich - wie so oft - wortlos neben sie und bat ihr die andere Hälfte des Apfels an. Sie beäugte die Scheibe, schüttelte dann aber abweisend den Kopf. Nenan aß es selbst und dachte nach. Er fühlte sich nicht so einsam, wenn Chana neben ihm saß. Manchmal kam es ihm vor, als wäre Chana alles, was Nadine zurückgelassen hatte in dieser Welt.

Die halbe Stunde verging wie im Flug. Schon bald saß Nenan wieder in Niersbachs Sattel und trieb ihn langsam voran. Chana stapfte neben ihm und führte Jula mit Theyn auf ihrem Rücken nach vorne. Der Rest der Truppe folgte ihnen. Irgendwie überkam Nenan das Gefühl, dass die anderen Chana nun mehr respektierten, weil sie die Geliebte der Prinzessin gewesen war. Er kam sich albern vor bei diesem Gedanken, denn Chana war generell eine respektable Person. Trotzdem wurde er den Gedanken nicht los.

Es hatte schon vor Stunden zu regnen angefangen, als Nenan etwas im Hintergrund ausmachte. Er kniff die Augen zusammen und sah zu Chana, doch die sah zu Boden und schirmte ihre Augen vor dem Regen ab. Theyn allerdings schien es bemerkt zu haben. "Was ist das?", fragte sie, ihre blonden Haare nass an ihrem Hals klebend. Nenan zuckte mit den Achseln. "Die Karte können wir jetzt nicht heraus holen, sonst werden wir sie das letzte Mal benutzt haben." "Auf der Karte ist da nichts eingezeichnet", sagte Lahnol von hinten und führte Siegesstolz an Nenans Rechte. "Das weißt du auswendig?", fragte Nenan mit gerunzelter Stirn. Lahnol gluckste. "Auch ich habe meine Qualitäten." Oreni beugte sich zu Nenan rüber. "Der Burche hat mehr drauf, als man mit bloßem Auge sehen mag. Ich kann bezeugen, dass er oft stundenlang vor Karten brütet." Nenan kam wieder einmal nicht umhin, sich zu fragen, was die beiden für eine Beziehung hatten, wie lange sie sich überhaupt schon kannten.

Er zuckte mit den Achslen. "Na, dann hat hier jemand wohl absichtlich was gebaut, um dein Gehirn lächerlich zu machen", sagte er, seine Stimme triefend von Sarkasmus. Lahnol runzelte die Stirn, als verstünde er nicht recht, aber Nenan machte keine Anstalten sich zu erklären. "Schauen wir uns das doch mal an", murmelte er und gab Niersbach die Sporen seiner Stiefel zu spüren. Chana stieg hinter Theyn auf Jula und ritt ihm nach. Die Anderen taten es ihr gleich.

Sie ritten eine Weile, bis sie erkannten, dass es sich um eine sehr kleine Siedlung handelte, mit vielleicht zwanzig bis dreißig Häusern. Es gab kein Banner, das die Zugehörigkeit zu einem Königreich verkündete. "Vielleicht unabhängig...", murmelte Nenan zu sich selbst. Anton hinter ihm runzelte die Stirn. "Gehen wir da hin?", fragte er. "Wir haben nur noch wenige Vorräte. Außerdem wissen sie vielleicht, ob Juliette und Justin vorbei gekommen sind. Darum ja. Wir gehen dort hin", gab ihm Nenan Antwort. Der Heerführer brachte sie näher an das Dörfchen. Es hatte nicht einmal eine Mauer, nur ein hölzerner Zaun, der hier und da einige Löcher aufwies. Sie erreichten eine Art Tor, aber es gab keinen Wächter. Nenan führte sie darum einfach hindurch, in entgegengesetzter Richtung der sinkenden Sonne, die ihnen lange Schatten vor die Hufe und Füße warf.

Innerhalb der klapprigen Mauer war unerwarteterweise sehr viel los. Mehr Bewohner, als in die Häuser passen sollten tummelten sich auf etwas, das wie ein Marktplatz aussah. Zumindest war es der einzige Weg, der nicht aus einem einfachen Trampelpfad bestand, sondern aus relativ flachen Steinen. Der Weg führte zu einem hohen Baum, der umrundet von noch mehr Steinen war. Leute hatten sich um einen besonders hohen Stein versammelt, und man konnte hören, dass sie einer Frauenstimme zuhörten. Die Dorfbewohner hatten die Gruppe von Mortis noch nicht bemerkt, so fasziniert waren sie von den Worten der Frau. Neugierig ritten Nenan, Anton und die anderen näher, bis sie das Schauspiel betrachten konnten.

Nenan reckte den Hals, bis er die Frau sah, die da vom höchsten der Steine sprach, damit sie jeder sehen konnte. Er riss die Augen auf, als er sie erkannte: das war die Frau, die zu der Gruppe gehörte, die Chana und Theyn gefangen gehalten hatten. Die Frau, auf die Anton und er gezielt hatten, damit sie ein Druckmittel für Orenis und Lahnols Fragen waren. Und das Schlimmste: Sie sah ihn direkt an.

Er starrte in ihre dunklen Augen, sein Blick wanderte an ihr hinauf und hinunter. Sie trug das selbe lockere schwarze Kopftuch wie in jener Nacht, ihr Teint im Licht heller als damals, aber immer noch braun gebrannt. Hölzerne Ohrringe hingen ihre Ohrläppchen hinab und sie trug ein schwarzes Gewand mit roten Ornamenten. Ihre Lippen waren ein kräftiges pink, fast schon rot. Sie hielt seinem Blick stand und wie damals, als sie einen kurzen Blickkontakt in der damaligen Nacht gehabt hatten, fühlte er sich merkwürdig entblößt, denn ihr Blick war ausdruckslos, so durchschauend, als könnte man nichts vor ihr verbergen. Sie hatte ihre Rede an die Dorfbewohner abgebrochen und die Einwohner hatten sich alle zu den Reisenden umgedreht, neugierig darauf, was sie unterbrochen hatte.

Nenan schluckte, aber er wandte den Blick nicht von ihr ab, erst als Anton an seinem Umhang zupfte, sah er weg. "Warte", flüsterte Nenan ihm zu, dann stieg er vom Pferd. Ein älterer Mann schälte sich durch die Reihen der Dorfbewohner und Nenan ging auf ihn zu. "Seid Ihr der Dorfälteste?", fragte er höflich und neigte respektvoll den Kopf. "Das bin ich. Keisteran ist mein Name. Und ihr seid..?" "Wir sind Reisende aus Mortis. Wir wollten hier unsere Vorräte auffüllen. Und unsere Erinnerungen." "Erinnerungen?" "Ja", sagte Nenan und nickte. "Habt ihr andere von Mortis vorbei ziehen sehen? Sie werden von zwei Heerführern geleitet." Keisteran schüttelte den Kopf. "Bedauerlicherweise nicht. Aber wenn ihr in Frieden kommt, dann seid ihr nicht unwillkommen. Wir sind nur etwas knapp an Betten, denn ihr seid nicht die einzigen, die hier sind." "Wer denn noch?", fragte Nenan stirnrunzelnd. Der Mann schielte für einen Moment lang zu der Frau mit dem schwarzen Kopftuch und den durchdingenden Augen. "Der silberne Schweif", entgegnete er ehrgebietend.

Lothoria: Schwarzes BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt