erade tippte ich die letzten Wörter meines Artikels über das Theaterstück des gestrigen Abends in eine Word-Datei, als das rote 80er-Jahre-Schnurtelefon auf meinem Schreibtisch klingelte.
Glücklicherweise konnte ich direkt im Anschluss an mein Volontariat bei einer auch in Bochum ansässigen Lokalzeitung übernommen werden. Mit Hilfe meiner Mentorin schrieb ich von Beginn an die Beiträge für den Bereich Kultur und Unterhaltung und besuchte zu diesem Zweck Theateraufführungen in der Umgebung, ebenso wie Filmpremieren, wenn sie nicht gerade im schicken Berlin stattfanden.
Der Job bei der Zeitung füllte mich komplett aus und machte mir Spaß, obwohl ich eigentlich lieber zum Radio gewollt hätte. Einerseits wurde eine Hospitanz dort jedoch nicht vergütet. Andererseits war mir nicht nach Musik.
Egal in welcher Form.
Von der Beschäftigung am Schauspielhaus in Düsseldorf konnte ich bis zur Bekanntgabe meiner Bachelornote im März vor zwei Jahren gut leben. Es waren keine großen Sprünge möglich, jedoch reichte es für mich alleine vollkommen aus. Als ich –bereits früher als erhofft- im April das Volontariat bei der Lokalzeitung antrat, war sogar die Finanzierung eines neuen Autos möglich.
„Holmberg. Wer stört?", fragte ich gespielt genervt, weil es lediglich zwei Personen gab, die die Durchwahl zu meinem Büro hatten. Eine von ihnen war meine beste Freundin, die zur Zeit von Arbeit überhäuft wurde und mit Sicherheit nicht für ein kurzes Pläuschchen in der Redaktion anrief.
„Temme stört", sagte die männliche Stimme am anderen Ende der Leitung forsch in den Hörer und brachte mich damit zum Lächeln.
Ich kannte Jan bereits einige Monate und fand ihn direkt sympathisch. Er war ein Fußballkollege von Marlens Langzeit-Freund Marius. Auf Grund eines Absprachefehlers waren wir vor einigen Wochen lediglich zu zweit etwas essen gegangen, anstatt in einer großen Gruppe von Menschen loszuziehen.
Daraus ergab sich eine dating-ähnliche Freundschaft, bei der wir –wenn es unsere Terminplaner zuließen- an einem Abend in der Woche zusammen aßen. Jan war der erste Mann, den ich wieder näher an mich heran ließ, nachdem Samu mich vor über zwei Jahren sehr unsanft aus seinem Leben radiert hatte.
„Und was will Temme?", witzelte ich, speicherte das Schriftstück ab und lehnte mich in meinem schwarzen Schreibtischstuhl zurück.
„Essen. Hunger?"
„Etwas. Du?"
„Immer?", entgegnete Jan gekünstelt schockiert.
„Wo?"
„Überraschung. Wann?"
„Halbe Stunde?"
„Viertel Stunde?", schlug er vor.
Ich starrte auf die Uhr am rechten unteren Rand des Bildschirms.
„20?"
„20 was? Uhr?"
„Minuten?"
„Hm", ich hörte, wie er sich nachdenklich an seinem Drei-Tage-Bart kratzte, „18 Minuten und ich hol dich ab?"
„Passt", schmunzelte ich.
„Perfekt, bis gleich!", sagte er fröhlich und legte auf.
Ich versah den Artikel noch mit meinem Namen und dem der Veranstaltung und schickte ihn anschließend im PDF-Format und einer Word-Datei an meinen Chefredakteur Thomas. Eilig bearbeitete ich zwei Mails aus meinem übergequollenen Postfach, notierte mir den Beginn des Theaterstücks am nächsten Tag in meinem Kalender, stopfte Taschentücher, Lippenpflegestift und Handy in meine braune Umhängetasche und schaltete den Computer aus. Ich stiefelte über den grauen Teppichboden und winkte meinen Kollegen, die noch immer arbeitend in den gläsernen Büros saßen zu und zog mir im Aufzug die beigefarbenen Winterjacke über.
Der eisigkalte Schneeregen wehte mir um die Nase und bewegte mich dazu, die graue Strickmütze aus der Tasche zu kramen und sie mir tief in das Gesicht zu ziehen. Der letzte Winter war laut Meteorologen zu warm gewesen, dieser hier für mich eindeutig zu kalt. Trotz meiner skandinavischen Wurzeln und des vorletzten Monats des Jahres.
Ich stapfte einige Meter durch die von Streusalz bedeckte Fußgängerzone und erblickte Jan, der an der Haltestelle auf der anderen Straßenseite in seinem silbernen Mercedes auf mich wartete.
Schief auf dem Beifahrersitz sitzend befreite ich meine braunen Schnürrboots von Schneematsch und Streusalz, indem ich sie gegeneinander schlug.
„Scheiß egal, komm rein", meinte Jan und startete augenblicklich den Motor, bevor er sich zu mir herüber lehnte und mir einen Kuss auf die Wange drückte, „wie war dein Tag?"
„Zu lang", griente ich, knallte die Tür ins Schloss und schnallte mich an, „deiner?"
Er winkte ab und blickte in den Rückspiegel, um auszuparken.
„Ich hab heute zum ersten Mal den neuen Chirurgen im OP gehabt. Der kommt irgendwo aus Österreich und hat einen furchtbaren Akzent. Ich hab kein Wort verstanden", er machte Zischgeräusche, „er hat mich gefragt, ob ich „tramhapert" sei."
Jan arbeitete als operationstechnischer Assistent in einem großen Krankenhaus in der Innenstadt und unterhielt mich fast täglich mit lustigen Geschichten aus dem Klinikalltag. Viele Dinge waren so kurios, dass sie in einem Buch hätten niedergeschrieben werden sollen.
„Und was heißt das?"
„Keine Ahnung, ich hab ihn ja nicht verstanden", er zuckte mit den Schultern, „vorsichtshalber hab ich erstmal verneint. Hinterher ist das irgendwas Rassistisches", johlte er.
„Dann hätte man dich vielleicht abgemahnt", schmunzelte ich.
„Dann hätte man mich vielleicht gefeuert", korrigierte Jan und fuhr los.
„Rioja?", erkundigte ich mich ungläubig.
„Weil du so spanienbegeistert bist", antwortete er und hielt mir die Tür zu der Tapasbar auf.
Von außen betrachtet war das Lokal unscheinbar und wenig einladend. Es hatte diesen typischen Kneipencharakter, um den man um jeden Preis einen Bogen machte, wenn man konnte. Umso schöner war es allerdings von innen. Es war typisch spanisch, urig, muckelig und gemütlich eingerichtet. Offensichtlich schien es ein Geheimtipp unter den spanischen Austauschstudenten der Stadt zu sein; ich vernahm kein einziges deutsches Wort.
Jan und ich nahmen etwas abseits Platz und durchforsteten die Speisekarte, die uns ein Kellner brachte. Am liebsten hätte ich alles einmal bestellt und ihm zum Probieren vorgesetzt.
„Emma", flüsterte er unsicher, „bekomme ich ein ganzes Brot mit Aioli, wenn ich das bestelle?"
„Nein", kicherte ich, „Tapas sind Häppchen. Bestell ruhig drei oder vier verschiedene Gerichte, dann können wir untereinander tauschen."
„Ok", noch immer verwirrt widmete er sich wieder der Karte, „kannst du was empfehlen?"
„Die Tomaten hier", ich tippte auf den Bereich „kalte Tapas", „die gibt es in Mazagón auch immer."
„Fährst du dieses Jahr nochmal hin?"
„Leider nicht. Aber nächstes Jahr im März vielleicht. Vorher bekomm ich mit Sicherheit keinen Urlaub. Wie sieht es mit dir aus?", fragte ich, ohne über die genaue Bedeutung meiner Frage nachzudenken.
Ich hatte ihn gerade gefragt, ob er mit mir in den Urlaub fahren würde.
Einfach so.
Ohne über die Konsequenzen nachzudenken.
„Was?", ungläubig runzelte er die Stirn.
„Wie es mit dir aussieht", wiederholte ich sicher.
Jan war toll. Ich konnte mit ihm lachen, Spaß haben und den Alltag um mich herum vergessen. Was sprach also dagegen, mit ihm wegzufahren? Egal, was sich bis dahin daraus entwickelt hatte.
„Ich war noch nie in Südspanien", er lächelte, „vielleicht bekomme ich da auch frei."
„Das wäre schön."
Auf seinen Wangen bildeten sich Grübchen.
„Du weißt, was du essen willst?", lenkte er ab.
Ich nickte und Jan winkte eine Servicekraft zu uns an den Tisch.
Wir aßen uns quer durch die Speisekarten. Von Brot mit Aioli über scharfe Kartoffelwürfel zu Paella und gegrillten Garnelen mit Knoblauch, die ich ihm nur zu gerne überließ, weil ich immer noch kein Fischliebhaber war. Zum Abschluss bestellte ich noch zwei Stücke Schokoladenkuchen und hoffte inständig, dass ich während der Fahrt nach Hause nicht platzen würde.
„Die Idee war toll, danke", schmunzelte ich und gabelte ein Stück des feisten Kuchens zum Mund.
„Gerne", grinste Jan, „ist mal was anderes als deine ewige Pizza."
„Ich liebe Pizza!", nuschelte ich mit vollem Mund und schob die Unterlippe nach vorne.
„Und ich liebe Nudeln. Trotzdem kann ich sie nicht jeden Tag essen."
„Ich schon."
„Das weiß ich wohl", machte er sich lustig und legte den Kopf zur Seite, so dass ihm eine braune Haarsträhne aus seinem nach hinten gegelten Pony ins Gesicht fiel.
„Sag mal", ich zeigte auf seine Stirn, „willst du nicht endlich mal diesen neuen Friseurbedarfsladen in der Stadt ausprobieren?"
„Warum?", lässig pustete er die Strähne von der Stirn.
„Seit Wochen sagst du mir, dass du mit deinen Stylingprodukten unzufrieden bist. Und du hast doch gesagt, dass du morgen frei hast, oder?"
„Positiv", Jan hielt die Daumen nach oben, „aber ich werde nicht mit dir dahin gehen, um mir überteuertes Haarspray zu kaufen."
„Nicht?"
„Niemals nie."
„Lass uns wenigstens gucken, was die da haben."
„Nein."
„Komm schon", ich klimperte mit den Wimpern.
„Nee."
„Jee."
„Nein, Emmchen."
Emmchen.
Das klang so unfassbar nach Til Schweiger. Die andere Möglichkeit wäre „Emmi" gewesen. Aber so hatte –unter anderem- Samu mich immer genannt; also hatte ich auch das so schnell wie irgendwie möglich aus meinem Leben verbannt.
„Bitte komm mit", quengelte ich, „die haben diese tolle Rundbürste im Angebot."
„Unter drei Bedingungen", Jans Hand wanderte über den Tisch in meine Richtung.
„Drei?", ich riss die Augen auf, „drei sind sehr viel für eine Haarbürste, findest du nicht?"
„Geht", sagte er grinsend, „erstens: ich begleite dich zu diesem Theaterstück morgen Abend. Zweitens: wir trinken morgen einen Kakao zusammen und drittens: du hast nach dem Stück noch Zeit, etwas mit mir zu unternehmen."
„Du weißt, wann das Spektakel morgen Abend losgeht?"
Jan nickte.
„Der Kakao... Vor oder nach dem Kauf?", meine Finger tippelten über den Tisch, als der Kellner plötzlich seine Arme dazwischen warf, um die Tapasteller abzuräumen. Erschrocken legte ich meine Hände zurück auf die Oberschenkel.
„Von mir aus auch währenddessen", Jan zog ebenfalls seine Hand zurück und verschränkte die Unterarme auf dem Tisch, „aber nur eins von drei Sachen geht nicht."
„Das heißt, ich muss mit dir ins Theater gehen und den Kakao trinken, damit du mitkommst?"
„Und danach noch was mit mir unternehmen", ergänzte er.
„Check", entgegnete ich und winkte eine andere Bedienung zum Bezahlen herüber.
Herr Panke ließ gerade die Rollläden herunter, als Jan mich gegen 22.00 Uhr vor meiner Haustür absetzte. Wir vereinbarten eine Uhrzeit für das Kakaotrinken am nächsten Tag und verabschiedeten uns mit französischen Küsschen voneinander.
Vorsichtig ging ich die Betontreppe hinunter, trat mir vor der Tür abermals den Schnee von den Stiefeln und öffnete die Wohnungstür meines Souterrains. Ich bildete mir ein, einen permanenten Farbgeruch wahrzunehmen, obwohl ich bereits vor über einem Jahr die komplette Wohnung neu gestrichen hatte.
Nichts sollte mich mehr an Samu erinnern.
Als Riku mich damals bei sich übernachten ließ und mich am darauffolgenden Tag zum Flughafen gebracht hatte, fühlte ich mich vollkommen leer. Samu hatte mir mit wenigen Worten alles genommen, was ich noch besaß. Nur für ihn war ich nach einem Streit nach Finnland gereist, um mich wieder zu versöhnen.
Ich wusste, dass meine Chancen nicht gut gestanden hatten, irgendetwas zu retten. Aber ich wollte nichts unversucht lassen.
Ich liebte ihn.
Nach einem kurzen Smalltalk zu Beginn und meiner Liebeserklärung stand ich relativ schnell wieder vor der Tür seines Hauses.
Auf der –für mich- falschen Seite.
Noch Wochen nach meiner Ankunft in Deutschland konnte ich nicht richtig essen und schlafen, mimte während der Arbeit die Gutgelaunte und legte diese Maske ab, sobald ich alleine war.
Ich begann in unregelmäßigen Abständen zu rauchen, beschaffte mir Aufgaben, belegte –wie auch in Antofagasta- einen Zumba-Fitnesskurs und ging regelmäßig schwimmen. Samu war der Grund, warum ich sämtliche Medien aus meinem Leben verbannt hatte. Kein Radio, keine Musik, keine dämlichen TV-Shows, nur Kino und DVDs, keine Boulevardblätter.
Nur echte Nachrichten, soweit ich es irgendwie einrichten konnte.
Die Blöße wollte ich mir nicht geben.
Einige Wochen nach meiner Rückkehr nach Deutschland brach ich nach einem Dankesanruf bei Riku jeglichen Kontakt zu der Band ab, löschte Samu aus den Freundeslisten der sozialen Netzwerke und blockierte ihn überall.
Als Leni von Fehmarn zurückkehrte, war sie eines Abends ohne jegliche Vorwarnung vorbeigekommen und fand mich zusammengekauert, weinend und mit tiefhängenden Augenringen auf der Couch. Sie verordnete mir das volle Mädchen-Wohlfühl-Programm und päppelte mich mit Kinobesuchen, DVD-Abenden, Wellnesstagen, Make-up Kursen, Frühstücken mit alten Bekannten aus der Schule und ausgedehnten Shoppingtouren wieder auf.
Bis ich mit ihr am Rheinufer entlang gehen konnte, ohne in Tränen auszubrechen, vergingen einige Monate. Aber dafür, dass ich nicht heulte, schenkte sie mir ein Flugticket nach Sevilla und eine Busfahrkarte nach Mazagón. Ich sollte Sonne tanken und endlich die Spanier besuchen, wie ich es vor viel zu langer Zeit versprochen hatte.
Zwei Wochen entspannte ich mit Inés, Rocío und Éric am Strand, aß spanische Schokoladencroissant mit Honig, bevor ich voller Energie zurück nach Deutschland flog und mit dem Verfassen meiner schriftlichen Bachelorprüfung begann.
Von da an ging es langsam wieder bergauf.
Zwischendurch gab es Situationen, die mich noch immer an Samu erinnerten.
Die wahnsinnig wehtaten.
Aber sie wurden weniger.
Vergessen hatte ich ihn jedoch nicht.
Es wirkte, als hätte er einen großen Teil von mir zerstört.
Doch dieser Teil kam nie zum Vorschein, eben weil er nicht mehr präsent war.
Nie wieder hatte ich etwas von ihm gehört.
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Just friends?
Fanfic"[...] Wie wäre es, wenn sie immer da wäre? Wenn sie morgens neben mir aufwachen würde? Immer? Ich stieß einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Keine Chance. Soweit hatte ich damals nicht gedacht; soweit sollte ich jetzt nicht mal ansatzweise de...