Ich löschte das Licht im Wohnzimmer, bevor ich am späten Abend zu Jan ins Bett kroch. Er war vorgegangen, weil nur mich die Unordnung störte, die meine Familie hinterlassen hatte. Er lag auf der Seite und döste bereits vor sich hin. Vorsichtig legte ich mich daneben, gab ihm einen Kuss auf die Haare und zog die Bettdecke bis zum Hals, bevor ich das Nachtlicht ausschaltete.
„Kann ich was fragen?", nuschelte Jan plötzlich und setzte sich auf.
„Klar", ich drehte mich wieder auf den Rücken, schaltete das Licht erneut an und sah in seine müden Augen.
„Warum hast du mir nicht gesagt, dass dein Bruder mit einem Mann verheiratet ist?"
„Ist das wichtig?"
„Na ja", druckste er, „dann ist er schwul."
„Ja und?"
„Findest du das nicht eigenartig, dass dein Bruder mit einem Mann verheiratet ist und mit ihm zusammenlebt?"
Ich setzte mich gerade hin und wickelte die Decke um meine Schultern.
„Sollte ich es als etwas Komisches empfinden?"
„Ja, oder? Findest du nicht?"
Meine Augenbrauen zogen sich ungläubig zusammen.
„Findest du, dass es unnormal ist?"
„Normal ist es sicher nicht", lachte er hämisch.
„Was?", meine Stirn legte sich in Falten.
„Die Bibel sagt im dritten Buch Mose, dass du nicht einem Manne beiwohnen sollst, wie du einer Frau beiwohnst, weil es ein Gräuel ist", zitierte er fast perfekt.
„Sag mir, dass du mich verarschst, Jan", meinte ich schockiert und rückte ein Stückchen von ihm weg.
„Mit Sicherheit nicht. Es ist Sünde", sagte er trocken und legte die Hände gefaltet auf die Bettdecke.
„Was?", ich glaubte, nicht richtig zugehört zu haben.
„Homosexualität ist Sünde."
„Und Sex vor der Ehe? Wie sieht es damit aus?", fragte ich stichelnd nach, „das geht?"
„Süße", Jan streichelte meinen Oberarm, „du kannst das doch nicht gut heißen?"
„Kann ich nicht? Warum nicht?", ich schlug seine Hand weg.
„Weil es eine Sünde ist", wiederholte er genervt, „Gott hat nicht Adam und Eva geschaffen, damit zwei Männer heiraten."
Ich prustete.
„Du verarschst mich gerade, oder?"
„Du weißt, dass ich gläubig bin, Emma. Wo ist also das Problem, dass wir darüber reden?"
„Du warst an Heiligabend nicht mal in der Kirche!", protestierte ich.
„Weil ich arbeiten war, ja. Ansonsten gehe ich immer."
„Und du bist wegen deines Glaubens gegen eine Beziehung zwischen zwei Männern?"
Er nickte.
„Du bist homophob, weil irgendjemand vor Jahrhunderten mal gesagt hat, dass es Sünde sei?"
„Ich finde es unnormal, widerlich und auch irgendwie abstoßend, ja. Es ist so nicht bestimmt."
„Das ist doch krank", entnervt schüttelte ich den Kopf und hoffte, dass mich gleich jemand kneifen und ich somit aus einem Traum erwachen würde.
„Das, was dein Bruder mit seinem Freund macht, ist krank."
„Mann. Julian ist sein Mann", korrigierte ich ihn, „dein Weltbild ist krank."
„Ich würde das gerne ausdiskutieren, Emmchen."
Emmchen.
„Was willst du diskutieren? Ich hab da eine andere Meinung zu."
„Willst du sie mir mitteilen?", plötzlich wirkte er sehr förmlich.
„Homosexuell zu sein ist heute nichts mehr, was man in irgendeiner Weise verurteilen sollte. Es ist normal, dass zwei Männer oder zwei Frauen Hand in Hand durch die Stadt laufen. Da hat sich in den letzten Jahren einiges getan."
„Für dich ist es also normal?"
„Ja. Nicht nur, weil du hier über meinen Zwilling redest", merkte ich an, „sondern auch allgemein. Als ich in Düsseldorf gearbeitet habe, hatte ich sogar 'n schwulen Kollegen."
„In Düsseldorf", meinte er abfällig und pustete Luft aus.
„Was Düsseldorf?"
„Das ist auch so 'ne Hochburg."
„Und du glaubst, dass es in deinem erz-katholischen Trier keine schwulen Menschen gibt?"
„Weniger auf jeden Fall."
„Du machst mich gerade wirklich sprachlos", meine Stimme zitterte, „ich wusste nicht, dass der Mann, mit dem ich derzeit mein Bett teile, so festgefahren ist und sich vor meinem Bruder ekelt, weil er mit einem Mann schläft."
„Das hat doch nichts mit uns zu tun", er wollte wieder meinen Arm berühren, aber ich konnte ihn schnell genug wegziehen, so dass er ins Leere griff.
„Natürlich hat es das. Das ist mein Bruder, von dem du da gerade redest. Das ist meine Familie."
„Bitte akzeptier meine Meinung dazu", entgegnete er selbstsicher und legte sich wieder unter die Bettdecke.
„Das tu ich, aber ich teile sie nicht und finde sie überholt."
„Dann ist das so", Jan legte sich hin und knüllte ein Kissen auf seinem Kopf zusammen.
„Dann ist das so", äffte ich ihn nach und legte mich mit dem Rücken zu ihm.
Ich schlief unglaublich unruhig, wälzte mich sekündlich von rechts nach links, stand mitten in der Nacht auf, um zu rauchen und landete letztendlich um viertel vor zwei vor meinem Laptop und googelte alles zum Thema Kirche, Katholizismus und Homophobie.
Jans Weltanschauung warf mich völlig aus der Bahn.
Um 05.00 Uhr war ich immer noch nicht wieder im Bett. Also entschloss ich mich zu einem morgendlichen Spaziergang durch die Nachbarschaft.
Schon im Kindergarten wurde Toleranz und Akzeptanz gegenüber jedem Lebewesen vermittelt. Meine Erzieherin hatte sogar gesagt, dass wir vor Gott alle gleich wären. Wieso war denn dann die Tatsache, dass mein Bruder einen Mann liebte, für Jan so schwierig zu verstehen? Ich war mir sicher, dass er es tolerierte, dass es so war, weil er keine andere Möglichkeit hatte. Er musste es als gegeben hinnehmen. Höchst ungern, wie mir beim Revue passieren unseres Gesprächs auffiel. Ich hatte nicht gewusst, dass ihn das Auftreten von Daniel und Julian so sehr störte und schockierte. Obwohl sie schon lange zusammen und bereits seit mehr als zwei Jahren verheiratet waren, gab es zwischendurch immer Momente, in denen Daniel Julian sich wie verliebte Teenager aufgeführten und ungeniert knutschten. Das war mir aber gerade während des Weihnachtsessens nicht aufgefallen. Möglich, dass es meine Schuld gewesen war, weil ich nie erwähnt hatte, dass ich ein gleichgeschlechtliches Paar in der Familie hatte; für mich machte es keinen Unterschied und war nichts, was ich extra breittreten musste.
Was waren seine Beweggründe?
Außer die Religion?
Was war mit Nächstenliebe? Zählte das nicht?
Hatte Jan Angst, sich zu Männern hingezogen zu fühlen?
„Guten Morgen", sagte er, als ich meinen Wintermantel wieder an die Garderobe hing, „wo hin des Weges, schöne Frau?"
„Duschen und dann in die Redaktion", gab ich kühl zurück und schob mich an ihm vorbei.
„Können wir vorher nochmal reden? Ich glaube, du hast das gestern völlig falsch aufgefasst."
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen erwartend an.
„Ich finde Homosexualität verwerflich, ja. Und ich möchte mit denen auch nicht mehr als nötig zu tun haben. Das musst du akzeptieren. Aber ich will dich."
„Und du musst akzeptieren, dass mein Bruder einer von denen ist", ich malte Anführungsstriche in die Luft, „ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, der meinen Bruder auf Grund seiner Homosexualität verurteilt, sorry. Ich teile diese Meinung nicht."
„Ich hätte einen Kompromiss?"
„Der da wäre?", gespannt schloss ich die Tür des Bads, um die Wärme darin wieder einzuschließen.
„Ich äußere mich nicht abfällig über Schwule und du bist im Gegenzug mit meinem Glauben einverstanden."
„Du darfst glauben, was du willst. Solange du damit niemandem schadest. Und wenn du an Satan glaubst, ist auch das in Ordnung für mich."
„Solange ich damit niemanden verletzte?", hakte er nach.
„Solange du damit niemandem Schaden zufügst, ja", nickte ich und verschwand im Badezimmer.
Den ganzen Tag über war ich vollkommen unkonzentriert und mit meinen Gedanken überhaupt nicht bei der Arbeit. Dazu kam, dass ich im Verlauf des Tages langsam aber sicher bemerkte, dass ich immer schläfriger wurde.
Ich hatte Jan wirklich gern und wollte diese Beziehung nur ungern beenden, aber mit dieser Einstellung zu meinem Bruder –meinem Ein und Alles- konnte und wollte ich nicht leben. Wenn er es schaffen würde, diese Situation als gegeben hinzunehmen und ehrlich und aufrichtig zu akzeptieren, war das für mich in Ordnung. Alles andere hätte zu einem Aus der Partnerschaft geführt.
Wie gerne hätte ich mit Leni darüber gesprochen.
Oder mit Samu.
Samu?
Wieso Samu?
Irritiert schüttelte ich den Kopf.
Er war sowas wie mein bester Freund gewesen, bevor er sich dazu entschieden hatte, mich aus seinem Leben zu löschen.
Komplett.
Da war er wieder.
Direkt an zweiter Stelle.
Ich schmunzelte, weil ich an eine der lustigen Situationen denken musste, die ich mit ihm erlebt hatte. Tomás hatte mir kurz nach der Trennung ein Bild in Boxershorts von ihm geschickt, welches mehr als peinlich für ihn gewesen war. Samu war vor Lachen vollkommen ausgerastet und hatte sich die Tränen aus den Augen wischen müssen.
Und trotzdem passte das jetzt irgendwie gar nicht.
Diese Flashbacks waren nicht gut für mich und mein Gehirn.
Er war nicht mehr Teil meines Lebens und sollte es nie wieder werden.
Schluss.
Ein zufälliges Treffen war zumindest für das nächste Jahr durch Fraukes unermüdlichen Einsatz nicht vorgesehen. Und wenn doch, würde ich grüßen und weitergehen.
Aber der Drang, mit jemandem zu reden, ließ mich kurz darüber nachdenken, ihn anzurufen.
Ohne eine Telefonnummer von ihm zu haben gestaltete sich das als durchaus schwierig. Das Gespräch aber wäre ein lustiges gewesen: „Hey Samu, ich muss mit jemandem reden. Mit Leni bin ich verkracht und du bist mir prinzipiell egal, aber ich werde wahnsinnig, wenn ich mich nicht mitteilen kann."
Das war vollkommen undenkbar und keine wirkliche Option.
Ich schüttelte den Kopf, aß einen der alten Lebkuchensterne, die vor mir auf dem Tisch standen und bestellte mir ein neues Cocktailkleid für den Silvesterabend, um nicht in Versuchung zu geraten, irgendjemanden meiner „Freunde" zu kontaktieren.
Jans Wagen war immer noch vor der Tür geparkt, als ich um 22.00 Uhr nach Hause kam.
„Warum bist du so spät?", quetschte er mich aus, als ich wortlos meine Boots auszog.
„Ich wohne hier und kann ja wohl kommen und gehen wann ich will, oder?", zickte ich.
Er hatte Nerven. Den ganzen Tag hatte er wahrscheinlich nichts Produktives getan und fragte mich dann, wo ich so lange gewesen war. Ich war mit Absicht etwas später gekommen als sonst; in der Hoffnung, er wäre mal in seiner Wohnung, wenn ich kommen würde.
Seine Art hatte mich tief verletzt.
Das Letzte, was ich wollte war mich jetzt nochmal mit ihm zu unterhalten.
„Tut mir leid, dass ich mich so unreif verhalten habe. Aber das ist nun mal das, was ich vom Thema Homosexualität halte."
„Hast du Angst, dass du selber schwul bist?", ich hing meine Jacke an den Haken und ging an ihm vorbei in die Küche.
„Wie bitte?"
„Zweifelst du an deiner Männlichkeit, dass du so einen Blödsinn von dir gibst?"
„Keinesfalls!"
„Sondern?"
„Zweifelst du etwa an meiner Männlichkeit?", funkelte er mich im Türrahmen stehend an.
„Nein", ich nahm ein Glas aus einem der Hängeschränke und goss Leitungswasser hinein, „aber du offensichtlich an deiner. Ich hab mich heute Morgen etwas belesen. Die meisten Menschen, die homophob sind, haben Angst, selber schwul oder lesbisch zu sein."
„Das ist doch lächerlich", Jan prustete verächtlich, „ich habe überhaupt keine Probleme mit meiner Männlichkeit."
„Schön", ich exte das Glas Wasser hinunter, streckte mich ihm entgegen und küsste ihn provokant auf die Wange, „dann muss ich mir ja keine Sorgen machen, dass du mich für einen Mann verlässt."
„Das ist lächerlich."
„Dein Verhalten ist lächerlich. Du kannst dich doch nicht wirklich davor ekeln."
„Tu ich aber. So wie du dich vor Spinnen ekelst."
„Das kannst du doch nicht miteinander gleichsetzen", die Vorstellung an diesen Vergleich machte mich rasend, „du sollst meinen Bruder und seinen Mann nur akzeptieren und ihnen freundlich gegenübertreten. Mehr verlange ich nicht. Aber ich will nicht jeden Abend nach Hause kommen und wieder mit dieser Diskussion anfangen. Das bringt auf Dauer doch nichts."
„Hast du ihnen erzählt, wie ich dazu stehe?"
„Du hast gestern bestimmt keine Situation ausgelassen, ihnen deinen Glauben und deine hirnverbrannten Weltansichten selbst mitzuteilen", gerade wollte ich die Küche verlassen, als Jan mein Handgelenk fest umklammerte.
„Emmchen. Ich möchte nicht, dass du weiterhin Kontakt zu denen hast."
Mir fiel alles aus dem Gesicht.
Ich sagte gar nichts mehr. Sah ihn lediglich vollkommen entsetzt und empört in seine funkelnden grünen Augen.
„Was ist, wenn wir später mal Kinder haben?"
„Wann haben wir dieses Kinder-Gespräch geführt?", fragte ich verwirrt.
„Die werden dann in der Schule gemobbt, weil der Onkel mit einem Mann zu allen Sportfesten kommt. Willst du das?"
„Was hat das damit zu tun?"
„Was ist, wenn die anderen Kinder unseren Sohn oder unsere Tochter ausgrenzen? Das wäre furchtbar schlimm."
Mit einem Schlag wandelte sich das Bild von Jan in meinem Kopf von nahezu perfekt zu unglaublich unperfekt. Allein die Tatsache, dass er etwas Derartiges von mir verlangte, brachte ihn auf der Beliebtheitsskala nicht gerade an die Spitze.
„Ich will nicht, dass unsere Kinder später gemobbt werden, weil ihr Onkel mit Männern schläft", machte er deutlich und streichelte über meine Hand, die er immer noch umfasste, „nicht jetzt, nicht in zehn Jahren, nie. Und der erste Weg dahin wäre ein Kontaktabbruch."
Ich begann aus Selbstschutz laut zu lachen. Vermutlich hatte mein Auge sogar einige Male unkontrolliert gezuckt.
„Raus", ich riss mich von ihm los, lief schnell zur Tür und öffnete sie, „verschwinde."
„Du schmeißt mich raus?", er lachte verächtlich, „du? Schmeißt mich raus? Mich?"
„Es ist meine Wohnung, hau ab."
Er ging kopfschüttelnd ins Schlafzimmer und kam keine Minute später mit dem roten Rucksack über der Schulter wieder heraus.
„Du willst das so nicht?", die Frage stellte er eher rhetorisch, „schön! Dann war es das. Denk nicht, ich würde wiederkommen."
„Wer sich so verhält, muss nicht wiederkommen."
„Das war die einzige Bedingungen."
„Falsch", ich schüttelte den Kopf, „der Kompromiss war, dass du dich nicht mehr abfällig über Schwule äußerst und ich deinen Glauben akzeptiere. Jetzt komme ich nach Hause und du fängst mit dem gleichen Thema von vorne an und stellst sogar noch Bedingungen."
„Und du akzeptierst ihn ja doch nicht. Das ist dann dein Problem."
„Ich hab damit nicht wieder angefangen, Jan."
Er schwieg.
„Ich hab aktuell nur ein Problem. Und das bist gerade du", ausladend deutete ich auf die graue Betontreppe, „bitte geh."
Jan schnaufte, bevor er sauer die Türklinke in die Hand nahm und in die kalte Dezembernacht verschwand.
Dass er Homosexualität als Sünde einordnete, war eine Sache.
Die andere Sache war, dass er mich –ohne es ausgesprochen zu haben- vor eine Wahl gestellt hatte: Er oder Daniel.
Ich raufte mir stöhnend die Haare und versank in dem Polster meiner gemütlichen Couch.
Und hatte tatsächlich ein Déjà-vu.
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Just friends?
Fanfiction"[...] Wie wäre es, wenn sie immer da wäre? Wenn sie morgens neben mir aufwachen würde? Immer? Ich stieß einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Keine Chance. Soweit hatte ich damals nicht gedacht; soweit sollte ich jetzt nicht mal ansatzweise de...