Danach Filmriss. Komplett

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Wir saßen nebeneinander auf den Barhockern und unterhielten uns wie alte Freunde, die sich ewig nicht gesehen hatte. Eigentlich undenkbar nach dem Interview im November und der zweijährigen Funkstille davor. Dank des Alkohols war mir das auch überhaupt nicht unangenehm. Im Gegenteil. Robin war unauffindbar und ich zu betrunken, um jetzt schon zurück zu gehen. Ich konnte eine Menge Zeit sparen, wenn ich erst etwas ausnüchterte um dann weniger taumelnd zum Hotel zu laufen.
„Das ist krank, findest du nicht?"
„What do you mean?", fragte Samu und kippte einen Shot Jägermeister herunter.
„Dass wir hier sitzen?"
„You never stop thinking", lachte er, „how was your life the last two years?"
„Praktikum und Uni, Bachelorprüfung, Volontariat, Zeitung. Und deins?"
„You really wanna know?", er schob mir ein Pinnchen Wodka zu.
Schnell trank ich den klaren Inhalt und schüttelte mich.
„Wenn nicht, hätte ich nicht gefragt."
„Clubtour, studio, album, tour, holidays, a lot of sex. Und?"
Das war ja klar.
Kein Kind von Traurigkeit der Gute.
„Was und?"
„Wie ist Arbeit? Macht Spaß?"
„Ja, schon", druckste ich.
„I'm sorry for my emotional outburst last year", sagte er versöhnlich, "ich war confused, dass ausgerechnet du machst diese thing."
„Mir tut es auch leid. Meine Strafe ist diese Reise hier."
„Könnte sein viel schlechter, oder?"
„Schlechter und besser, natürlich", hickste ich, „kann ich was fragen, ohne dass du wieder auf die Idee kommst, ich wollte dir nicht auf Augenhöhe begegnen oder ich sei deine Mutter?"
Samu wirkte nachdenklich.
„You can try", zwinkerte er betrunken und schien mir diese Frage in keinster Weise übel zu nehmen.
„Warum trinken wir zusammen?"
„Du hättest sagen können, dass du nicht willst."
„So mein ich das nicht. Warum trinken wir zusammen?"
„Weil du nicht gesagt hast, dass du willst nicht?", er runzelte missverständlich die Stirn.
„Samu", frotzelte ich, „warum fragst du mich, obwohl wir eigentl..."
„Obwohl wir eigentlich haben eine problem zu zweit?", ergänzte er sicher.
„Ja?"
Er tippte sich an die Lippe.
„Ehrlich Antwort?"
„Ja?"
„Ich habe getrunken, du hast getrunken. Also wir sind nicht in die position um zu reden über die shit vor two years."
Das klang einleuchtend.
„Ich bin so drunk, dass ich dich frage, ob du hast Lust zu tanzen", seine Augenbrauen wippten.
„Aber nur, wenn wir vorher noch was trinken", ich strich das Kleid glatt als ich aufstand, „Wünsche?"
„Just a beer and a shot."
Ich nickte und bestellte an der Bar zwei Wodka und zwei Flaschen Bier. Samu griff bereits um mich rum und nahm sich jeweils ein Pinnchen und eine Flasche, bevor ich überhaupt bezahlt hatte.
„Ich ertrage dich nicht if I get sober", flüsterte er in mein Ohr.
„Me too", grinste ich und schob das Schnapsglas nach dem Entleeren dem Barkeeper entgegen.
Auf der Tanzfläche stieß ich mit Samu an, bevor er mich galant um die eigene Achse drehte und dann meine Hand wieder los ließ. Wir lachten viel mehr über die Leute, die um uns herum standen, als dass wir wirklich tanzten. Ganz abgesehen davon war ER Mister I-don't-dance. Er konnte sich zu langsamer Walzermusik gut bewegen. Aber sobald ein Beat hinzukam, wirkten seine Bewegungen unbeholfen. Er hob die Beine, als würde er Trauben treten.
„Kennst du die Song?", schrie Samu euphorisch in mein Ohr, als der DJ einen Remix aus Shakiras „Hips don't lie" und irgendeinem Song von Aviici spielte.
„Sicher!"
Er stellte sich hinter mich, legte seine freie Hand auf meine Hüfte und ließ sie an meiner Taille auf und ab wandern, bis er seinen Schritt an meinen Po drückte und begann, den Text in mein Ohr zu hauchen. Als der Beat leiser wurde, legte er seine Hand auf meinen Bauch. Sofort griff ich danach und drehte mich zu ihm um.
„Was?", Samus blaue Augen wurden durch ein Lächeln zu schmalen Schlitzen.
„Behalt mal deine Finger schön bei dir."
„Oh Emmi, c'mon", er legte eine Hand in meinen Nacken und drückte mir einen Kuss auf die Wange, „alles, was happend in Berlin, bleibt hier."
„Das hättest du wohl gerne", schmunzelte ich und tippte ihm auf die Brust, „danke für die nette Unterhaltung. Aber ich muss jetzt wirklich gehen. Ich muss morgen relativ früh zurück nach Hause."
„Aber die beer wir trinken noch?"
Angeekelt sah ich auf die Flasche.
„C'mon Emma. Sei keine Frosch."
Samu und ich strauchelten nebeneinander die Treppe zur Bar hoch und setzten uns wieder auf die gemütlichen Barhocker. Er bestellte vier Wodka und klirrte mit seiner Flasche an meine.
„Das trink ich nicht, Samu", bestimmte ich.
„Just two. Du sollst nicht trinken alle", er schob mir lallend zwei der vier Schnapsgläser zu mir herüber, „es ist so sexy deine finnische „s"."
„Du füllst mich ab", meinte ich, ohne weiter auf ihn einzugehen.
„Never", zwinkerte er, „I don't wanna be sober next to you. Und langsam es wird eine problem."
„Dann ist die Idee mit dem Alkohol vielleicht gar nicht so schlecht", schmunzelte ich und hob das Glas.
Ich hatte keine Wahl. Und warum sollte ich den Alkohol ausschlagen? Er hatte mich eingeladen. Ein Ablehnen wäre unhöflich gewesen.
„Kippis!"
„Du hast nicht vergessen?"
„Ich weiß auch noch, wer du bist", kicherte ich betrunken.
Es war zwei Jahre her und ja, es hatte mich innerlich zerrissen, zerstört.
Ich war wochenlang zu nichts zu gebrauchen.
Und auch wenn mich die Zusammentreffen am Ende des letzten Jahres schockiert und getroffen hatte, konnte ich mich heute Abend ganz gut zusammenreißen, was meine Hass- und Mordgefühle ihm gegenüber angingen. Das mochte höchstwahrscheinlich am Alkohol liegen, war für mich aber vertretbar.
Außerdem hatte ich mit ihm abgeschlossen. Er war für mich nicht mehr als ein Bekannter, der zufällig mit seiner Musik erfolgreich war und mir einen Schauer über den Rücken jagte, wenn er sang.
Er hielt ein Pinnchen in die Luft und wartete, bis ich meines erhob.
„Auf eine gute Nacht without die Katze in the morning!"
„Dafür ist es jetzt schon zu spät", lachte ich.


Das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, war, dass ich die Bierflasche exte und erneut mit Samu tanzen gegangen war.
Danach Filmriss.
Komplett.
Ich krallte mich in die Bettwäsche und musste feststellen, dass das nicht gegen den aufkeimenden Schwindel half. Außerdem fühlte sie sich anders an. Irgendwie edler und weicher. Mit geöffneten Augen blinzelte ich einige Male in die Dunkelheit.
Das war nicht mein Hotelzimmer.
Gar nicht.
Auf der Nachtkonsole erkannte ich durch die Lichter der Straßenlaternen draußen zwei leere Wasserflaschen und ein schwarzes Telefon für den Zimmerservice. Langsam setzte ich mich auf.
Kopfschmerz.
Zu viel des Guten war auch nicht immer gut.
Ich rieb mir die Augen und ließ meine Arme rechts und links von mir müde auf das Bett fallen.
„Hm", hörte ich Samu böse brummen.
Erschrocken zog ich die Hände dicht an meinen Körper und tastete mit der rechten Hand die Wand nach einer möglichen Lampe ab.
Schnell wurde das Zimmer in einem warmweißen Licht hell erleuchtet. Vor Schmerzen kniff ich die Augen zusammen und quälte mich aus dem Bett.
Samu lag auf dem Bauch und hatte ein Kissen auf seinem Kopf liegen. Die Tagesdecke benutzte er als Zudecke, während er mir die apricotfarbene Bettwäsche überlassen hatte. Die Zierkissen lagen auf dem Hocker am Fußende, ebenso wie mein Kleid und Samus Anziehsachen.
Ich starrte an mir herunter und ließ mich theatralisch wieder auf die Bettkante sinken.
Wieso musste ich immer diese furchtbar fiese Schwelle übertreten, wenn ich Alkohol trank? Als ich das letzte Mal so betrunken gewesen war, hatte ich einen Flug nach Helsinki gebucht, um zu dem Finnen, der neben mir schlummerte, zu kommen.
Jetzt hatte ich wieder getrunken.
Und war wieder bei dem gleichen Finnen gelandet.
Ironie des Schicksals.
Meine Augen suchten den Boden nach meiner Clutch ab. Ich musste dringend in mein Hotel. Anderenfalls hätte mich mein Chef Thomas umgebracht. Allein schon die Tatsache, dass ich mich nicht an seinen Zeitplan gehalten hätte, wäre für ihn ein Grund gewesen, mich erneut irgendwo hinzuschicken. Vielleicht zur Abwechslung an einen Ort, der aus einer Straße bestand aber über 20 Sehenswürdigkeiten Inne hatte.
Ich tippelte durch das Hotelzimmer, nahm das Kleid vom Hocker, streifte es über und fand eher zufällig meine Tasche inklusive Handy auf dem Glastisch vor einem Sessel.
05.41 Uhr.
Ich ging zurück zum Bett, schaltete das Licht aus und schlich mit meinen Stiefeln ins Badezimmer, um mir wenigstens das Gesicht zu waschen und nicht wie ein Pandabär das Hotel zu verlassen. Ich entfernte die schwarzen Augenringe aus Mascararesten so gut es ging mit der hoteleigenen Seife, die neben Samus ungeöffnetem IFK-Kulturbeutel stand. Glücklicherweise hatte ich das Haargummi vor dem Schlafengehen um mein Handgelenk gebunden. Zwar hatte ich mir damit das Blut abgeschnürt, aber so war es mir wenigstens möglich, die Haare irgendwie zusammen zu binden, so dass man mir nicht auf fünf Meter Entfernung die wenigen Stunden Schlaf und vor allem den Alkohol ansah.
Im kleinen Flur tastete ich mich selbst prüfend ab und stellte fest, dass ich meinen Wintermantel nicht gesehen hatte. Also tippelte ich in gebückter Haltung nochmal in den Wohn- und Schlafbereich zurück. Es wäre so viel einfacher gewesen, erneut das Licht für einige Sekunden einzuschalten, aber darauf war ich nicht gekommen. So leise wie möglich zog ich die Vorhänge ein Stück zur Seite und versuchte mit Hilfe der Straßenlaternen dieses Stück dunklen Stoff zu erkennen. Ich stolperte fast über die Beine des Glastischs, als ich den Mantel von der Lehne des Sessels fischen wollte. Danach öffnete ich die Zimmertür und huschte über der weißen, offenen Korridor zum Fahrstuhl.
Bevor ich einstieg schaute ich über das Geländer und fühlte mich in meine Kindheit zurück versetzt. Die Lobby war riesig. Es sah aus wie in dem Plaza-Hotel aus dem Film „Kevin allein in New York". Überall war heller Teppichboden ausgelegt, Sitzgruppen aufgestellt und alte urige Schirmlampen platziert.
„Entschuldigung Sie bitte", ein Angestellter des Hotels räusperte sich freundlich hinter mir um mir zu signalisieren, dass der Aufzug gekommen war. Ich stieg ein, drückte auf „0" und schwieg den Mitarbeiter an, während wir nach unten fuhren.
Mein Schädel brummte wie schon lange nicht mehr.
Ich hatte das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen.
In der Lobby angekommen wollte er schnellen Schrittes an mir vorbeilaufen.
„Entschuldigen Sie?", meinte ich verkatert und wunderte mich über den plötzlichen Geistesblitz.
„Ja bitte?", fragte er höflich.
„Haben Sie vielleicht einen Stift und einen Zettel dabei?"
Ich musste verrückt sein.
„Natürlich", sofort holte er einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus der Hosentasche seiner dunkelroten Arbeitskleidung. Er drückte mir beides fast unterwürfig in die Hand.
„Danke", krakelte ich, setzte meine neue Handynummer darunter, riss den Zettel vom Block ab und faltete ihn in der Mitte.
„Könnten Sie das Herrn Haber zukommen lassen?"
„Wie bitte?"
„Herrn Hebel, Entschuldigung", ich hoffte, er habe unter seinem damaligen Facebookpseudonym eingecheckt.
„Bitte wem?", er stierte mich ungläubig an.
„Hören Sie", ich pustete die Wangen auf, „Sie sollen mir nicht die Zimmernummer sagen. Geben Sie es ihm bitte einfach."
„Wem?"
„Samu Haber, Aleksi Haber, Hapa Haber, Kaisar Hebel, Mikko Ensio Saukkonen, Okkim. Ich weiß es nicht."
„Dann kann ich Ihnen leider nicht helfen."
„Sie wissen genauso gut wie ich, dass Samu Haber hier ist wer. Könnten Sie ihm den Zettel bitte einfach hinterlegen lassen?", bettelte ich genervt.
„Wer?"
Ich war kurz davor, vor Wut aus meiner Strumpfhose zu springen. Die Augen rollend holte ich einen 10-Euro Schein aus meiner Clutch und hielt ihm das Geld und den Notizzettel hin.
„Das ist wichtig, ok?"
Er nickte und griff sofort nach dem Geld.
Gierlappen.
Ich ließ meine Hand zurückschnellen und schaute ihn prüfend an.
„Danke", meinte ich erlöst, steckte ihm beides in seine rote Brusttasche, klopfte darauf und ging an ihm vorbei, um das Adlon Hotel zu verlassen.


Müde und erleichtert zugleich fiel ich am frühen Nachmittag in Jans Arme, als er mich am Hauptbahnhof abholte.
Seine verschrobene Weltanschauung hin oder her: Ich fühlte mich in diesem Moment genau richtig.
Geborgen und geliebt.
Es war schön, von ihm umarmt zu werden, obwohl er manchmal sehr eigen war.
Nachdem ich mir am frühen Morgen ein Taxi zu meinem Hotel genommen hatte, musste ich innerhalb von weniger als einer Stunde meinen Koffer zusammenpacken und mein Zimmer räumen. Das gestaltete sich nach den Massen an Alkohol schwieriger als vermutet. Nach etwas mehr als fünf Stunden und dreimaligem Umsteigen fuhr der ICE in Bochum ein.
Als Jan mir zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange drückte, verzog er angeekelt das Gesicht.
„Sorry", schelmisch schaute ich zu Boden, „war etwas viel gestern."
„Du riechst wie ein Aschenbecher, den man mit Jägermeister ausgespült hat."
„Fast."
„Na ja", er küsste meinen Scheitel und zog die Stange des Rollkoffers heraus, „du stinkst schon extrem, Süße. Als wärst du ins Bett gefallen und heute Morgen aufgestanden, ohne dich zu duschen."
„Ich hab mir auch nur das Gesicht gewaschen", lachte ich.
„Wie viele Drinks?"
„Ich hatte?"
Jan nickte.
Ich überlegte kurz.
„Ich hab keine Ahnung", lachte ich und setzte zum Gehen an.
„Aber sonst war alles gut?"
„Ja. Ich bin nur nicht mehr zum Schlafen ins Hotel gekommen", plapperte ich plötzlich putzmunter.
„Wie?"
„Ich hab nicht in meinem Hotel geschlafen."
Das klang beiläufig, sollte es auch.
Ich hatte bei Samu geschlafen, weil ich nach den unzähligen Pinnchen wohl nicht mehr in der Lage war, alleine zu gehen.
Das Kleid hatte ich ausgezogen, um es beim Schlafen nicht zu zerknittern.
Das war alles.
Jedoch kam das bei Jan ganz offensichtlich anders an, da er die Arme vor der Brust verschränkte und keine Sekunde daran dachte, den Koffer auch nur einen Zentimeter zum Auto zu ziehen.
„Was soll das heißen?"
Sein anderes Ich kam plötzlich wieder zum Vorschein.
Er war nicht grundsätzlich eifersüchtig, aber er schien sich manchmal seiner Sache sehr unsicher zu sein. Selbst wenn ich Marius etwas länger umarmte, markierte Jan danach sofort sein Revier, in dem er mich küsste.
„Ich hab wirklich viel getrunken. Sehr viel."
„Und dann bist du in einem fremden Hotelzimmer aufgewacht und leise über den Flur zum Ausgang geschlichen?"
Das beschrieb die Situation sehr treffend.
„Positiv."
„Oh Gott", fassungslos schüttelte er den Kopf, „kanntest du sie wenigstens von irgendwoher?"
„Sie?", verdutzt schaute ich Jan an.
„Ja, sie. Du wirst ja wohl nicht mit einem Mann mitgegangen sein?"
„Natürlich nicht", witzelte ich gespielt und fasste ihm an die Schulter, „zu wem dann auch? Ich war bei einer Freundin von Robin, den ich damals vertreten habe."
Und so wurde aus Samu eine Frau.

Just friends?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt