Hab dih aus fen Aufen berloren, bin rauhen

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Mein Laptop lud die Bilder der letzten Woche von der Speicherkarte, während ich krampfhaft versuchte, mich an irgendwelche positiven Eindrücke der Ausstellung im Technikmuseum zu erinnern und diese niederzuschreiben. Mitte Januar war ich nach Berlin gereist, um von Montagmorgen bis Freitagabend jeden Tag zwei Ausstellungen zu besuchen. Von Gartenparade bis hin zum Münzkabinett im Bode-Museum war alles dabei gewesen. Teilweise interessant, teilweise nicht erwähnenswert.
Weil ich mir die Freiheit genommen hatte, die langweiligen Ausstellungen alle an einem Tag anzusehen, konnte ich den Freitag vor Abreise nutzen, um auszuschlafen und das tolle Frühstücksbuffet des Adelantes auszuprobieren. Anschließend machte ich mich mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf den Weg in die Innenstadt um das Shoppingangebot Berlins zu begutachteten.
Mir kam es so vor, als hätte die ganze Bundesrepublik das gleiche Vorhaben gehabt wie ich. Die Straßen- und Untergrundbahnen waren vollkommen überfüllt. Ebenso wie der Kurfürstendamm. Alle drängelten, schubsten, quetschten und drückten sich durch die Türen der einzelnen Geschäfte.
Nachdem ich am späten Nachmittag mit gefüllten Taschen zurück in das Hotel kam, kontaktierte ich meinen ehemaligen Kollegen Robin von Universal Music. Ich hoffte, dass seine Nummer auch nach zwei Jahren noch immer aktuell war. Er wohnte nach wie vor in der Hauptstadt.
Bevor ich Robins Aufgabenbereich übernommen hatte, war ich immer nur maximal drei Tage in Berlin um Kaffee zu kochen oder Akten zu sortieren. Ich fuhr früh morgens mit der U-Bahn bis zur Warschauer Straße und ging die wenigen 100 Meter zu Fuß ins Büro, um abends völlig fertig in das durchgelegene Bett meines angemieteten Ein-Zimmer-Appartements zu fallen. Den restlichen Teil der Woche pendelte ich zurück nach Bochum, bis zu dem Zeitpunkt, als ich mit Sunrise Avenue umher gereist war.
Ich wollte mehr sehen als das Berlin der Touristen.
Natürlich hätte ich auch alleine auf Erkundungstour gehen können, aber gerade weil ich einen echten Berliner kannte, hielt ich es für eine gute Idee, ihn als meinen persönlichen Touristenguide auszuwählen. Vielleicht erschien es Robin etwas komisch, dass ich ihn nach unserem Zusammentreffen im letzten November anrief, aber mehr als „nein" sagen konnte er nicht. Zum meinem Glück freute er sich sogar, dass ich ihn anrief. Nach einem kurzen Smalltalk machte er selbst den Vorschlag, etwas gemeinsam zu unternehmen, wenn ich sowieso in der Stadt wäre. Die peinliche Fragerei blieb mir also erspart.
Wir verabredeten uns für 20.30 Uhr am Konzerthaus, da er vorher noch etwas im Büro zu tun hatte.
Ich wusste nicht, in welche Lokalität der Abend führen würde, deswegen entschied ich mich für eine blickdichte schwarze Strumpfhose, ein ärmelloses, etwa knielanges Kleid mit Spitze und schwarze Wildlederstiefel mit Absatz. Ich toupierte die Haare am Oberkopf und band sie anschließend zu einem hohen Zopf zusammen, tuschte meine Wimpern und trug vor dem Verlassen des Zimmers einen dunkelroten Lippenstift auf.


Glücklicherweise war die Weihnachtszeit längst vorbei. Vermutlich hätte ich mich zwischen den dicht an dicht stehenden Fressbunden verschanzt und darauf gewartet, dass mich jemand abholen würde. Ich sah auf mein Handy, als ich aus dem Augenwinkel heraus jemanden erblickte, der in meine Richtung winkte. Ich schob mich an den wenigen Menschen vorbei, entschuldigte mich für den einen oder anderen Ellenbogen und drückte Robin zur Begrüßung fest.
Nach einem historischen Exkurs zum Gendarmenmarkt und den beiden Domen verschlug es uns in das Borchardt in Berlin-Mitte. Robin kannte den Geschäftsführer Roland Mary privat und hatte deswegen sofort einen Tisch in dem offensichtlich bis zum letzten Platz ausgebuchten Restaurant bekommen. Ich wurde von unzähligen Augenpaaren angestarrt, als ich mich auf der mit rotem Stoff überzogenen Polsterbank nieder ließ. Es schien ein sehr nobles Restaurant zu sein, in dem auch viele Prominente regelmäßig eine Mahlzeit zu sich nahmen, wie mir Robin mitteilte. Vor allem während der Berlinale sei dort die Hölle los.
Nachdem wir wie der König in Frankreich gespeist und die Rechnung beglichen hatten, verließen wir das Borchardt und schlenderten rauchend die Franzstraße entlang.
Nicht ein einziges Mal erwähnte Robin das verpatzte Interview im Hotel, was mich persönlich sehr glücklich stimmte. Ich wollte mich nicht erklären müssen.
„Willst du noch einen Absacker trinken gehen?", schlug Robin vor.
„Wo?"
„Im Felix?", er deutete quer über die Kreuzung, „das sind vielleicht noch 400 Meter."
„Ist das eine kleine Bar?"
„Relativ", grinste er, trat seine Zigarette aus und steckte die Hände in die Manteltasche.


Das Felix war eine Diskothek.
Eine große Diskothek.
Mit Musik und DJs, die Songs ineinander mischten.
Musik.
Aber Sunrise Avenue schien hier fast verboten, was mich erleichtert aufatmen ließ.
Als Musik hätte ich dieses Gedröhne nicht eingeordnet.
„Ich war schon ewig nicht mehr tanzen", gab ich zu, als Robin vier Pinnchen Wodka vor uns platzierte. Zwei für mich und zwei für ihn.
Grey Goose.
Auch den kannte ich leider zu gut.
Hatte ich mir mit Tomás in der Lobby des Hyatts in Düsseldorf doch einige Gläschen zu viel gegönnt.
„Musik ist auch nicht mehr so meins", fügte ich hinzu.
Robin legte die Stirn kritisch in Falten.
„Du hast Medienwissenschaften studiert, oder?"
Ich nickte.
„Und dann willst du mir erzählen, dass du keine Musik hörst? Musik zählt doch zu den Medien", er wirkte empört.
„Ja", brüllte ich, weil der Bass der Technomusik an mein Ohr dröhnte, so dass ich mein eigenes Wort kaum verstehen konnte, „aber wenn ich den ganzen Tag in der Redaktion bin und mir das Gerede von anderen Menschen anhören muss, kann ich auf dem Weg nach Hause nicht noch Radio hören."
Dass Musik von einer selbstgebrannten CD mittlerweile wieder problemlos möglich war, verschwieg ich. Robin hätte mich für verrückt erklärt, wenn ich ihm von meiner Phobie bezüglich Samus Stimme erzählt hätte.
Und meiner Reaktion auf wenige Zeilen des Songs, mit dem die Jungs durchgestartet waren.
„Dann trink. Irgendwann nimmst du die Musik nicht mehr wahr", Robin prostete mir zu und kippte die Shots nacheinander herunter.
Ich tat es ihm gleich, verzog das Gesicht und knallte die Schnapsgläser auf die Theke.
„Da vorne ist eine Freundin von mir", schrie er in mein Ohr, „wartest du hier?"
Ich nickte, um meine Stimme nicht strapazieren zu müssen, bestellte mir einen Cosmopolitan und schickte Jan eine MMS. Wir telefonierten jeden Abend und erzählten uns von unserem Tag. Gesehen hatten wir uns nach dem Malheur an Weihnachten lediglich ein Mal.
Das eine Mal, als er mich Sonntagnachmittag zum Bahnhof gebracht hatte.
Die Sache mit seinem Glauben und Daniels Homosexualität stand nach wie vor zwischen uns und ließ mich auskühlen. Ich vermisste ihn, daran bestand keinen Zweifel. Aber plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob sich diese Kluft zwischen uns jemals wieder schließen würde.
„Du bist 'n Mädchen :-*", antwortete er, als ich ihm ein Bild meines Martiniglases geschickt hatte.
„Wanna drink something else, Emma?", lallte jemand euphorisch und stützte sich auf meinen Schultern ab.
Irritiert sperrte ich die Tasten meines Smartphones, ließ es in die schwarze Clutch gleiten, drehte mich um und sah in Osmos betrunkenes Gesicht.
„Salmiakki?", lachte ich und drückte ihn fest, „how are you? What are you doing here?"
Ich freute mich, ihn zu sehen. Wir hatten uns bei dem Frühstück in Samus Mökki kennengelernt und danach nicht mehr gesehen, trotzdem hatten wir schon damals sofort einen guten Draht zueinander gehabt.
„Maybe Wodka?"
„Wodka?"
„Swedish wodka", korrigierte er honorierend.
Ohne meine Antwort abzuwarten legte er die Hände an meine Hüften und steuerte mich von der Bar durch die tanzenden Diskobesucher in einen abgetrennten Bereich, der von Security bewacht wurde. Nach ein paar weiteren Schritten erkannte ich –trotz des gedämmten Lichts- Riku, Raul, Samu und Sami auf einer weißen Eckcouch in dem VIP-Loungebereich sitzen.
Ich schüttelte verstört den Kopf.
„I can't, sorry."
„I know you broked up bu...", Osmo zog entgeistert die Augenbrauen hoch.
„There was nothing to break up", unterbrach ich ihn lachend, „we're nothing."
Vor zwei Jahren hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als in Samus Nähe zu sein.
Und jetzt saß er da wie ein Trunkenbold in der Ecke und lallte seine Freunde an.
Dieses Bild kannte ich nur zu gut.
Es erinnerte mich an den Morgen in seinem Sommerhaus in Espoo. Bevor er mir unterstellt hatte, ich würde ihn bemuttern und bevormunden.
„I had no plan", meinte Osmo.
„No problem. Have a nice evening", ich drückte ihn nochmal, machte auf dem Absatz kehrt, verließ den Bereich und ging die weißen Stufen nach oben. Im oberen Areal bestellte ich mir wieder einen Cosmopolitan und ging dann schnurstracks in die Raucherlounge.
Genervt ließ ich die Clutch auf einen der aus Glas bestehenden Stehtische fallen und kramte nach meinen Zigaretten und einem Feuerzeug. Rauchend schaute ich durch die Glasscheibe hinunter in den Tanzbereich.
Alkoholleichen, wohin man sah.
Es war erst kurz nach Mitternacht, aber dennoch hatte die Jugend da unten maßlos übertrieben. Selbst ich wusste, dass man auf David Guetta keinen Ausdruckstanz tanzen konnte.
Nachdem ich aufgeraucht hatte, ging ich zurück zur Bar, trank einen Shot Wodka und ging mit einem neuen Cosmopolitan auf die Tanzfläche. Mittlerweile hatte ich so viel getrunken, dass es mir vollkommen egal war, dass Samu auch hier war. Sollte er doch seine Freizeit so verbringen, wie er wollte. Vermutlich war aber auch er der Auslöser für meinen übermäßigen Alkoholkonsum gewesen. Diesen Gedanken ließ ich nur unterschwellig zu.
Lauthals krakelte ich die Lyrics von diversen Mashups aus den 90ern mit und wippte im Takt. Von Britney Spears über Lou Bega, No Doubt, Disco Boys, Haddaway, Snap und Culture Beat; Ich kannte jeden Text.
Als ich eine kurze Verschnaufpause benötigte, setzte ich mich auf einen der Barhocker oben und ließ die Füße in meinen Schuhen kreisen. Ich liebte meine Stiefel sehr. Aber auf Grund des Absatzes war langes Stehen, Laufen oder gar Tanzen damit nicht möglich. Jetzt verstand ich auch, warum die Verkäuferin sie „Sitzschuhe" genannt hatte.
Wieder trank ich einen Wodka auf ex.
Langsam aber sicher drehte sich alles in meinem Kopf.
Obwohl ich saß.
Ein Blick auf die Uhr meines Smartphones verriet mir, dass ich in nicht weniger als acht Stunden wieder im Zug nach Bochum sitzen müsste.
Utopisch.
Es wurde Zeit, aufzubrechen. Gerade als ich durch mein Adressbuch scrollte, um Robin anzurufen, erhielt ich eine SMS von ihm:
„Hab dih aus fen Aufen berloren, bin rauhen."
Ich drehte mich auf dem Barhocker um und suchte die Raucherlounge mit den Augen nach ihm ab.
Nichts.
Entschlossen stand ich auf, schwankte und ging die Sitzgruppen und Glastische in dem Bereich langsam ab, um Robin nicht zu übersehen, falls er irgendwo betrunken in der Ecke liegen sollte.
Keine Spur.
Ich fingerte das Handy aus der Handtasche und warf erneut einen Blick auf seine letzte Nachricht.
Die Mitteilung hatte er mir bereits vor einer Stunde geschrieben.
Offenbar befand ich mich während meines Aufenthalts irgendwann in einem Funkloch.
Vermutlich war er schon längst weg.
Oder er lag auf der Männertoilette, weil er sich übergeben hatte.
Wieder ging ich zurück an die Bar, bestellte mir einen allerletzten Cosmopolitan und hoffte, dass ich mit Hilfe meiner Navigationsapplikation möglichst zeitnah am Hotel ankommen würde.
2,1 Kilometer, 27 Minuten.
Unter meinem momentanen Alkoholeinfluss: 60 Minuten.
Das war gerade noch akzeptabel.
Ich schrieb Robin mit wenigen Rechtschreibfehlern, dass ich mich auf den Weg gemacht hätte und bedankte mich für den netten Abend.
Auch, wenn ich ihn eigentlich alleine verbracht hatte.
Die Melodie von „La camisa negra" drang an mein Ohr, als ich gerade zum Ausgang stakste.
Das Lied musste ich noch hören.
Um jeden Preis.
Während meines Auslandssemesters in Antofagasta war es eines der ersten Lieder zu dem Rocío und ich am Strand Zumba getanzt hatten.
Ich eilte die Treppe hinunter auf die Tanzfläche und schnitt einen Teil des Songs mit, um es in unsere Gruppe zu schicken. Darunter schrieb ich „os echo de menos"; ich vermisse euch.
Einige Male verfiel ich in das typische Zumba-Hüfte-kreisen-lassen und wurde etwas unsanft von einer Gruppe offenbar noch minderjährigen Woo-Mädchen zur Seite geschubst, so dass ich den restlichen Inhalt meines Glases auf dem Top einer Frau neben mir wiederfand.
„Sorry", gab ich bestürzt von mir und gab ihr die Taschentuchpackung aus meiner Handtasche, „das tut mir wirklich unendlich leid!"
„Kinder", sagte die Brünette und tupfte sich den Cosmopolitan vom Dekolleté, „die sind noch nicht älter als zehn, betrinken sich bis zur Besinnungslosigkeit und wooen dann auch noch."
Ich stimmte lachend zu.
„Alles in Ordnung", grinste sie und wendete sich wieder ihrem Tanzpartner zu, während ich mich betrunken an den Menschen vorbeischob, um mein jetzt leeres Glas auf den Tresen zu stellen und die Diskothek endgültig zu verlassen.
Unsicher ging ich die Treppen hinauf und erspähte Samu mit einer Bierflasche in der Hand an der Wand lehnen.
Er hatte mir gerade noch gefehlt.
„New best friend?", stammelte er undeutlich als ich an ihm vorbei ging.
„Yes", lachte ich knapp und versuchte das so unbewusst wie möglich zu sagen.
Er entgegnete ein müdes Grinsen und hielt meinen Arm fest.
„Bist du betrunken?", lallte ich.
Er starrte auf die Flasche, nahm einen tiefen Schluck, presste anschließend die Lippen aufeinander und ließ mich wieder los.
„Yes, you?"
„Ich bin voll wie ein Eimer, ja."
Er hielt mir die geballte Faust hin.
Ich schlug ein und lehnte mich neben ihn an die Wand.
Ich hatte nichts mehr zu verlieren.
Ich war betrunken und nicht mehr Herrin der Lage.
„Wanna drink something else?"
Unsicher starrte ich zu ihm herüber.
Seine Haare waren wieder nach hinten gegelt.
Die Haarkur hätte er immer noch vertragen.
Aber dieses Mal war sein schwarzes Shirt mit V-Ausschnitt und die dunkle Hosen wenigstens gebügelt.
„Wanna drink something else?", wiederholte er.
„Eigentlich muss ich jetzt ins Hotel", nuschelte ich.
Aber da taumelte Samu schon zur Bar um etwas zu trinken zu bestellen.

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